Raus aus der Resignation: Lebensfreude trotz chronischer Krankheit

Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland gilt als chronisch krank. Die Betroffenen tragen als Dauerpatienten das Los, auf unbestimmte Zeit, vielleicht sogar für immer auf ärztliche Hilfe angewiesen zu sein. Zugleich schlägt dem Begriff »chronisch« Skepsis entgegen: Werden Krankheiten manchmal vorschnell zu bleibenden gestempelt? Ist an ihrem Beharren möglicherweise schuld, dass sie unzulänglich behandelt, ihre Ursachen übersehen wurden? lebensart gibt Orientierung in einer vielschichtigen Materie.

Arterienverkalkung, Arthrose, Demenz, Diabetes, Migräne, Rückenschmerzen, Tinnitus – die Liste der Krankheiten, denen das Attribut »chronisch« anhaftet, ließe sich mühelos fortsetzen. Ihnen allen gemeinsam ist, dass weder die Selbstheilungskräfte noch ärztliche Behandlung Beschwerdefreiheit herbeiführen, bestenfalls hin und wieder Linderung verschaffen. Tritt binnen einer Frist von drei, maximal sechs Monaten (sogenannte Akutphase) keine Besserung ein, machen Ärzte ihren Patienten wenig Hoffnung auf Heilung. Doch eine Krankheit als chronisch einzustufen ist »an sich nur eine Zeitbestimmung« – als Namensgeber stand Chronos, der griechische Gott der Zeit, Pate –, »nicht eine Wertbestimmung des Ausgangs oder der Heilbarkeit«, stellte der Berliner Medizinprofessor Adolf Gottstein (1857–1941) schon vor 90 Jahren richtig. Im Unterschied zu einer akuten, vorübergehenden Krankheitsepisode dauert der chronische Zustand an, erweist sich als langwierig, mal mit permanenten, mal mit phasenhaft wiederkehrenden Symptomen (»Schüben«). Doch muss dies unweigerlich »unheilbar« oder »austherapiert« bedeuten? Beschreiben solch düstere Nebenbedeutungen tatsächlich die Realität chronischer Krankheit oder stürzen sie zu Unrecht in Resignation?

Tatsächlich tendieren die Heilungschancen gen null, wenn Organe bestimmte Funktionen einbüßen, z. B. die Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr bildet und daraufhin der Blutzuckerspiegel entgleist. Ein lebensbedrohlicher Zustand, den das regelmäßige Spritzen von Insulin entschärft und in einen chronischen überführt – der Begriff »chronisch« verliert seinen Schrecken, wenn er an die Stelle von Siechtum und Tod tritt. Bekanntlich kann auch die Therapie verengter Herzkranzgefäße oder mancher Krebsleiden das Leben verlängern – ohne wirklich gesund zu machen. »Die Medizin ist erstaunlich erfolgreich, selbst wo sie nicht über das Kurieren an Symptomen hinausgeht«, sagte Dr. Klaus Michael Meyer-Abich, Physiker und Naturphilosoph aus Hamburg. In seinem Buch »Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin« hat der emeritierte Professor, der von 1972–2001 an der Universität Essen lehrte, ausgelotet, warum wir erkranken und wodurch wir wieder genesen. Meyer-Abich, im April 2018 kurz nach seinem 82. Geburtstag verstorben, war Typ-2-Diabetiker und profitierte selbst von der Insulintherapie, obwohl diese nicht vermag, die krankhafte Stoffwechselstörung zu beheben – und obwohl, so Meyer-Abich, die Behandlung einseitig somatisch ausgerichtet sei, d. h. lediglich dem körperlichen Krankheitsgeschehen gelte. Während bei Diabetes diese Einseitigkeit ohne echte Alternative sei, reiche es bei anderen Krankheiten nicht aus, sich allein um die körperliche Konstitution des Patienten zu kümmern. Meyer-Abich plädierte für eine ganzheitliche Therapie, die krank machende seelische und soziale Faktoren mit einbezieht.

Viel zu oft werde übersehen, dass psychische Belastung, Dauerstress und beruflicher Frust sich auch körperlich zeigten, woran einseitig herumzukurieren aber nicht weiterhelfe: Entweder trotzt das körperliche Symptom der Behandlung oder es wird erfolgreich unterdrückt, schon bald aber durch ein anderes abgelöst, weil die eigentliche Krankheit fortbesteht. Dann ist von »Therapieresistenz« die Rede, ein Begriff, gegen den Meyer-Abich Sturm läuft: »Die sogenannte Therapieresistenz ist lediglich Resistenz gegen einseitig somatische Therapien. Wird eine Krankheit unzulänglich behandelt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn sie nicht weggeht. « Entsprechend kritisiert Meyer-Abich, die Zuschreibung »chronisch« halte Ärzte wie Patienten davon ab, sich eingehender mit den Krankheitsursachen – übersehenen körperlichen, aber auch psychosozialen – zu beschäftigen und diese nach und nach aus der Welt zu schaffen: »Es ist in vielen Fällen sehr wohl möglich, eine sich somatisch darstellende chronische Krankheit zu heilen, wenn neben dem Körper auch die Seele behandelt wird. « Die Psychosomatik gehöre daher nicht länger in eine fachärztliche Nische, jeder Allgemeinmediziner müsse entsprechend ausgebildet werden.

Die Verschränkung von Körperlichem und Seelischem in Krankheitsdingen relativiert die »Allmacht« von Genen, Krankheit zu determinieren. Meyer-Abich: »In meiner Familie besteht seit Generationen die Veranlagung zu Diabetes. Doch während meine übergewichtigen Brüder mit Mitte 40 die Diagnose bekamen, bin ich erst Ende 50 erkrankt, nachdem ich als Hamburger Wissenschaftssenator ein paar Jahre extremen Stress durchlebt hatte. « Die Lebensweise – Inbegriff der psychosozialen Verhältnisse – habe damals nicht zur körperlichen Konstitution gepasst; durch dieses Missverhältnis sei der Diabetes ausgelöst worden. Das Harmonieren von Lebensweise und Konstitution bezeichnet Meyer-Abich als Ganzheit: »Gesundheit und Ganzheit erweisen sich insofern als gleichbedeutend. « Krank werde entsprechend jemand, wenn ihm etwas abhandenkomme, das sein Ganzsein ausmache – bezeichnend, dass der Volksmund an Kranke die Frage »Was fehlt dir?« richtet. Und Genesung bedeute dann, zur Ganzheit zurückzufinden – kein Zufall, dass im Englischen »whole« und »healing« dieselbe Sprachwurzel haben.

Dass sich die angebliche Therapieresistenz von Patienten psychosomatisch überwinden lässt, ist in der Realität bereits angekommen. Ein Beispiel ist die multimodale Rückenschmerztherapie, die nicht allein auf Medikamente setzt, sondern zu deren elementaren Bausteinen u. a. auch die Verhaltenstherapie gehört. Auch die Behandlung der Fibromyalgie folgt einem bio-psychosozialen Modell, im Wissen darum, dass körperliche Schmerzen nicht selten Ausdruck von Lebensschmerz sind. Überdies suchen die medizinischen Fachgebiete mehr und mehr den interdisziplinären Schulterschluss, um die Perspektive auf den Patienten zu verbreitern, den »ganzen Menschen« in den Blick zu bekommen.

Manche Krankheiten stellen sich eher körperlich, andere eher seelisch dar, in jedem Fall aber kann der psychosomatische Ansatz die Genesung fördern oder zumindest zu mehr Wohlbefinden verhelfen. Die Botschaft lautet: Wer chronisch krank ist, hat trotzdem die Chance, sich »gesund« zu fühlen. Voraussetzung dafür sei, das Fixiertsein auf Krankheit und deren Entstehung (»Pathogenese«) zu überwinden und den Blick darauf zu richten, was gesund erhält bzw. gesund macht (»Salutogenese«). Nicht mehr die Defizite chronisch Kranker stehen im Mittelpunkt, sondern die auch bei ihnen vorhandenen, lediglich brach liegenden Gesundheitsressourcen. Würden sie genutzt und gestärkt, sei es auch im Angesicht der Krankheit möglich, gesund zu leben. Im Kern beschäftigt sich die Salutogenese mit der Fähigkeit des Menschen, seinem Leben auch unter widrigen Bedingungen einen Sinn zu geben und die eigene Mitte zu finden. Dazu verhelfen neben Psychotherapie auch Glücksmomente durch soziale Kontakte und neue Körpererfahrungen, etwa beim Singen, Tanzen oder Bogenschießen. Dass all dies Effekte auf die Selbstheilungskräfte hat, untermauern Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie, einer noch jungen Wissenschaftsdisziplin, die in den 1970er-Jahren aufkam. Nerven- und Immunsystem sind zwar zwei Welten, aber sie kommunizieren miteinander und beeinflussen sich wechselseitig. Stress, Verlusterfahrungen oder Ängste stellen sich im Organismus als Cocktail neuronaler Botenstoffe dar, für die das Immunsystem empfänglich ist und durch die es geschwächt oder überaktiviert werden kann (Autoimmunreaktion). Entspannung und Meditation können dem entgegenwirken. Dasselbe gilt für ein Mehr an körperlicher Bewegung, solange man sich dabei nicht überanstrengt.

Fazit: Chronische Krankheit muss nicht das letzte Wort im Auf und Ab des Lebens sein, sofern die Psyche mit in die Therapie einbezogen wird. Genesung deswegen zur Kopfsache zu erklären, wäre aber ein Trugschluss. Meyer-Abich: »Gesund denken kann man sich nicht! Der ausgeglichene Gemütszustand, von dem Gesundheit abhängt, bildet sich nur im Gleichgewicht von Seele und Körper. So wenig Therapie einseitig somatisch ausgerichtet sein darf, so wenig darf sie sich auf Seelisches reduzieren.«

Zum Weiterlesen

● Klaus Michael Meyer-Abich: Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin. München: Hanser 2010, 639 S.

● Theodor D. Petzold und Ottomar Bahrs (Hgg.): Chronisch krank und doch gesund. Salutogenetische Perspektiven. Bad Gandersheim: Gesunde Entwicklung 2013, 429 S.

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