Zahnmedizin: Zauberwort »minimal-invasiv«

Schonende Behandlungsverfahren revolutionieren die Zahnarztpraxis. Lebensart med beleuchtet die wichtigsten Anwendungen.

Die Bauchchirurgie hat es vorgemacht: Seit nur noch ein paar kleine Schnitte in die Bauchdecke nötig sind, um die Gallenblase oder den Blinddarm zu entfernen, haben nahezu sämtliche medizinischen Disziplinen minimal-invasive Techniken eingeführt (das lateinische Wort »invadere« bedeutet »eindringen«). Oberstes Gebot der behandelnden Ärzte ist, die Patienten zu schonen – stets so wenig Eingriff wie möglich und nie mehr als nötig.

»Prevention of extension«

Das trifft auch auf die Zahnmedizin zu: Muss gebohrt, gefüllt oder überkront werden, beschränken immer mehr Zahnärzte die Behandlung auf die kranken Anteile der Zähne und lassen die gesunde Substanz weitgehend unangetastet. Als Inbegriff der zahnärztlichen Kunst gilt ihnen der Zahnerhalt: »Bessere Zähne als die eigenen können wir trotz aller Fortschritte der Zahnmedizin nicht bieten«, sagt Dipl.-Stom. Dieter Hanisch, ehemaliger Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt. Minimal-invasive Zahnmedizin ist mit anderen Worten konservativ, bewahrend – und eben dies macht ihre Modernität aus. Als überholt verabschiedet hat sie den lange für unumstößlich gehaltenen Grundsatz »Extension for prevention«, zu Deutsch: »Ausdehnung zwecks Vorbeugung«, den Professor Greene Vardiman Black (1836 − 1915) aufstellte. Gemeint hatte der an der Universität von Chicago lehrende Zahnheilkundler mit seiner einprägsamen Formel, von einem kariösen Zahn solle man lieber etwas mehr wegbohren und ihn großzügig mit einer Füllung versehen, um erneute Zahnfäule zu verhindern. Die moderne Zahnmedizin stellt nun die Black’sche Maxime auf den Kopf: Aus »Extension for prevention« ist »Prevention of extension« (»Der Ausdehnung vorbeugen«) geworden.

Unter minimal-invasiver Zahnheilkunde ist allerdings mehr zu verstehen als »das Bohren kleiner Löcher«, betont Prof. Dr. Dr. Hans Jörg Staehle, Ärztlicher Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg. »Es geht darum, wie sämtliche Disziplinen der Zahnmedizin zur Erhaltung gesunder oraler Strukturen beitragen können.« So sind minimal-invasive Vorgehensweisen in nahezu allen Teilgebieten der Zahnmedizin anzutreffen, flankiert von vorbeugenden Maßnahmen (Prophylaxe), ohne die Zahnerhalt keine Chance hat: Erst regelmäßige Kontrolle und professionelle Zahnreinigung in der Zahnarztpraxis, ergänzt durch die richtige Zahnpflege daheim, machen minimal-invasive Therapien nachhaltig.

Paradebeispiele für minimal-invasive Verfahren in der Zahnmedizin sind:

Kariesentfernung
Bei fortgeschrittener Zahnfäule muss die kranke Zahnsubstanz entfernt werden. Minimal-invasiv geht es dabei äußerst umsichtig und behutsam zu: Der Zahn wird mit einer Speziallösung angefärbt, woraufhin sich befallenes Zahnbein (Dentin) bis in die kleinste Nische optisch vom nichtkariösen Bereich abhebt. Der Zahnarzt läuft dann nicht mehr Gefahr, gesunde Substanz versehentlich mit zu entfernen. Beim Bohren kommen u.a. Mikrodiamantschleifer zum Einsatz, die es ermöglichen, kontrolliert, also nicht zu tief vorzudringen. Eine Alternative zum Bohren stellt die sogenannte Air-Abrasion dar: Ein von Wasser umschlossener Pulverstrahl aus Aluminiumoxidpartikeln trägt unter Hochdruck den Kariesbefall ab, ohne die gesunde Zahnsubstanz zu schädigen. Bohrgeräusche und unangenehme Vibrationen entfallen. Das Verfahren ist schmerzarm, bei kleinen Defekten lässt sich auf eine Betäubungsspritze verzichten.

Zahnfüllung
»Früher haben wir einen kariösen Zahn so weit wie möglich aufgebohrt und dann gefüllt«, sagt Dr. Udo Lenke, Ex-Präsident der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg. Dabei ging unweigerlich auch viel gesunde Substanz drauf, denn der Zahn musste in Form geschnitten werden, damit der Füllstoff, z. B. Amalgam, sich mechanisch verankern ließ. Die minimal-invasive Zahnmedizin füllt heute ein Loch, das nicht mehr Raum einnimmt als der durch die Karies geschaffene Defekt. Möglich machen dies hochwertige visköse Verbundwerkstoffe (zahnfarbenes Composite) mit einem Kunststoff- und einem Keramikpartikelanteil, die mit dem Zahnschmelz bzw. dem Zahnbein verkleben. Die Entwicklung dieser sogenannten Adhäsivtechnik gilt als eine der großen Errungenschaften der neueren Zahnmedizin. Die Zahnsubstanz wird zunächst durch eine chemische Reaktion mit schwach konzentrierter Phosphorsäure haftfähig für das Composite gemacht, das dann tausendfüßlerartig bis in die kleinste Zerklüftung kriecht. Füllungen aus Amalgam gehen keine derart innige Verbindung mit dem Zahn ein, dieser ist deshalb auch weniger gut gegen erneute Karies geschützt.

Zahnrestauration
Ist der Zahn so stark zerstört, dass eine Füllung nicht mehr infrage kommt, müssen vom Zahntechniker hergestellte Restaurationen eingegliedert werden. Dabei bedient der Zahnarzt sich ebenfalls mehr und mehr der Adhäsivtechnik, um Inlays oder Teilkronen aus hochstabiler Vollkeramik (z.B. Zirkoniumdioxid) in bzw. auf den Zahnstumpf zu kleben. Auch hier handelt es sich um einen minimal-invasiven Eingriff, ein halber Millimeter Abtrag sollte bei der Präparation des Zahns allerdings nicht unterschritten werden.

Die Zahnhartsubstanz ist das eine, minimal-invasive Zahnmedizin hat aber mehr im Blick: Sie bezieht konsequent auch das Zahnfleisch ein, z.B. in der Implantatchirurgie (Einpflanzen einer künstlichen Zahnwurzel, die anschließend überkront wird). Bei minimal-invasivem Vorgehen wird das Zahnfleisch nicht mehr aufgeschnitten, um Platz für das Schraubgewinde des Implantats zu schaffen, sondern auf kleinstmöglichem Raum geöffnet. Genauer: Es wird punktgenau gestanzt, d. h. exakt dort entfernt, wo das Implantat hingehört. Weil das Zahnfleisch dabei nur wenig verletzt wird, schwillt es in der Folge kaum an, schmerzt nur wenig und regeneriert rasch.

Der Eingriff verlangt, damit er gelingt, eine äußerst präzise Planung mittels dreidimensionaler bildgebender Diagnosetechnik (digitale Volumentomografie, kurz: DVT), über die der Zahnarzt bzw. Oralchirurg der Wahl verfügen sollte. Anhand der Aufnahmen vom Patientenkiefer erstellt er eine Schablone, mit deren Hilfe sich das Implantat millimetergenau im Kieferknochen verschrauben lässt.

Nicht zu vergessen: Implantate können auch in der Hinsicht für sich beanspruchen, ein minimal-invasiver Zahnersatz zu sein, weil sie gesunde Nachbarzähne nicht in Mitleidenschaft ziehen. Für eine Brücke hingegen müssten diese beschliffen werden und würden damit irreversibel geschädigt.

Das leidige Geld

Last but not least ein Wort zu den Kosten: Zahnärzte machen keinen Hehl daraus, dass die minimal-invasive Therapie anspruchsvoller, aufwendiger und diffiziler ist als konventionelle Behandlungen – und von daher teurer kommt. Unterm Strich kann sie sich trotzdem rechnen: Substanzerhalt und vermiedene Kollateralschäden sind ein Beitrag dazu, ohne Zahnersatz auszukommen oder erst viel, viel später auf ihn angewiesen zu sein. Kalkuliert man den Zeitfaktor ein, könnten sich die höheren Investitionen in minimal-invasive Maßnahmen am Ende als kostenneutral oder sogar als kostengünstiger herausstellen.

Nützliche Links im World Wide Web

Mehr entdecken