Frauen sind anders krank – Männer auch!

Der viel zitierte »kleine« Unterschied zwischen den Geschlechtern ist folgenreich, auch in Krankheitsdingen. Ein Zusammenhang, der vernachlässigt wurde, bis die sogenannte Gendermedizin auf den Plan trat. Ihr Feld sind nicht mal Frauen-, mal Männerleiden, sondern Krankheitsbilder, die beide Geschlechter betreffen – und trotzdem einer geschlechtsspezifischen Herangehensweise bedürfen.

Von Dr. Markus Weber

In den USA nahm die Gendermedizin in den 1990er-Jahren ihren Anfang, in Deutschland wird mit ihr bis heute gefremdelt. Schon der Begriff löst Irritationen aus. Klar, »Gender« ist ein englisches Wort und bedeutet »Geschlecht«. Aber was das Ganze in der Medizin zu suchen hat, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Da ist es zum Ideologieverdacht nur ein kleiner Schritt: Steckt hinter den Genderdebatten, wie sie in akademischen Zirkeln geführt werden, nicht Gleichmacherei? Soll nun etwa auch in der Medizin der Versuch gemacht werden, den Unterschied zwischen Frau und Mann zu verwischen?

Weit gefehlt, das Gegenteil ist der Fall: Gendermedizin unterläuft nicht die Verschiedenartigkeit der Geschlechter, sie arbeitet sie vielmehr heraus – im Hinblick auf Gesundheit und Krankheit. Und dies obendrein ganzheitlich, denn die Begriffswahl »gender« bezieht neben dem biologischen Geschlecht (englisch »sex«) auch das soziale Geschlecht mit ein. Anders ausgedrückt: Die Gendermedizin interessiert sich nicht allein dafür, inwieweit männlicher und weiblicher Körper ungleichartig funktionieren. Sie nimmt auch in den Blick, dass die Psyche jeweils anders »tickt« – und dass es entsprechend beim Lebensstil und im Sozialverhalten geschlechtsspezifische Merkmale gibt, die sich ebenfalls auf die Neigung zu bestimmten Krankheiten auswirken. Weil die Gendermedizin für eben diese Zusammenhänge sensibilisiert, wird sie übrigens auch als »geschlechtersensible Medizin« bezeichnet.

Beitrag zur Gleichberechtigung

Von ihr profitieren beide Geschlechter, doch besteht bei Frauen der größere Nachholbedarf. Denn traditionell fungierte in der Medizin der männliche Körper als Norm, etwa bei der Dosierung von Medikamenten oder der Deutung von Krankheitssymptomen, wovon noch ausführlich die Rede sein wird. Dies hatte zur Folge, dass Frauen in vielen Fällen medizinisch nicht optimal versorgt wurden. Insoweit geht es bei der Gendermedizin auch um Gleichberechtigung – wie sie der Vertrag von Amsterdam zum Programm erhoben hat. Mit ihm setzte sich die Europäische Union schon am 1. Mai 1999 das rechtsverbindliche Ziel, die Gleichbehandlung beider Geschlechter zu fördern, nicht zuletzt im Rahmen der Gesundheitsversorgung.

Frauen in Deutschland sind zwar im Schnitt 14 Zentimeter kleiner als Männer, aber nicht einfach deren Miniaturausgaben. Beide Geschlechter unterscheiden sich prägnant – zum Beispiel im Hinblick auf Erbgut, Muskelmasse, Organdurchblutung sowie die Aktivität von Immunsystem, Leber und Nieren. Eine Schlüsselfunktion kommt den Geschlechtshormonen Östrogen und Testosteron zu, die eine Vielzahl von leibseelischen Prozessen beeinflussen – und übrigens sowohl im männlichen als auch im weiblichen Organismus anzutreffen sind, allerdings in jeweils unterschiedlichen Mengen. All dies hat Auswirkungen auf die geschlechterspezifischen Risiken zum Beispiel für Herzkrankheiten, Diabetes, Allergien und Autoimmunerkrankungen – und rechtfertigt auch im Rahmen der Therapie mehr Rücksichtnahme auf die Geschlechtszugehörigkeit.

Sämtliche Krankheiten durchleuchten

Die »Ärzte Zeitung« mahnte an, geschlechtsspezifische Unterschiede systematisch in Studien zu untersuchen, diesbezüglich geschehe in der Medizin immer noch viel zu wenig. Auf der Agenda steht, sämtliche Krankheiten auf ihre frauen- und männerspezifischen Aspekte zu durchleuchten, um daraus im ärztlichen Alltag Konsequenzen im Hinblick auf Vorbeugung, Diagnostik und Behandlung zu ziehen.

In vielen Bereichen ist die Forschung schon weit gediehen, insbesondere bei Herzerkrankungen und Diabetes. Weitere Erkenntnisse, die den »kleinen Unterschied« zwischen Adam und Eva illustrieren:

● Das weibliche Immunsystem ist aktiver als das männliche, reagiert schneller, stärker und dauerhafter auf Krankheitserreger. Das bedeutet einen besseren Schutz vor Infektionen, leider auch eine stärkere Neigung zu Allergien, also Überreaktionen auf harmlose Fremdstoffe, und zu Angriffen auf körpereigene Gewebe und Organe. Die Folge sind sogenannte Autoimmunerkrankungen z. B. der Gelenke (chronische Polyarthritis; sucht zu 75 Prozent Frauen heim) oder der Schilddrüse (Morbus Basedow; ist bei Frauen achtmal häufiger als bei Männern).

● Frauen haben ein fast doppelt so hohes Risiko für Arzneimittelnebenwirkungen, etwa nach Einnahme bestimmter Antidepressiva oder Blutdrucksenker. Bei beiden Geschlechtern werden Medikamente nämlich unterschiedlich verstoffwechselt. Das hat vor allem mit der Arbeitsweise von Leber und Nieren zu tun; auch dass Frauen weniger Magensäure bilden, kann sich nachteilig auswirken. Es gibt aber auch Vorteile: Manche Medikamente wirken bei Frauen länger und besser. Das gilt zum Beispiel für einige Schmerzmittel, die oft niedriger dosiert werden könnten – wären die Dosierungsempfehlungen nicht für beide Geschlechter dieselben. Ein Missstand, der vor allem darauf zurückzuführen ist, dass Arzneimittelstudien in der Vergangenheit ausschließlich mit männlichen Probanden durchgeführt wurden; mögliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern fielen somit unter den Tisch. Mittlerweile müssen neue Medikamente auch an Frauen erprobt werden, um zugelassen werden zu können. Klinische Studien zur Verträglichkeit und Wirksamkeit von Arzneimitteln kranken aber gleichwohl an einem Teilnehmerinnendefizit. Das ist zu beklagen, weil einerseits Gefahrenpotenziale übersehen werden, andererseits Substanzen, die bei Frauen vielleicht besonders gut wirken. In den USA erhielt übrigens Anfang 2013 erstmals ein Medikament ein geschlechtsspezifisches Label. Es handelt sich um das Schlafmittel Zolpidem, seine Dosis soll fortan bei Frauen grundsätzlich halbiert werden.

Auch wenn die wissenschaftliche Datenlage zunehmend besser wird, ist die Gendermedizin an den Universitäten kaum verankert. So gibt es in Deutschland nur einen einzigen Lehrstuhl, bekleidet von Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek an der Berliner Charité. Und auch nur hier gehört Gendermedizin zum Pflichtprogramm im Medizinstudium, ist andernorts kein regulärer Bestandteil der Ausbildung. Kein Wunder, dass genderspezifische Aspekte im Alltag der Patientenversorgung bisher noch zu kurz kommen. Auch der Blick in die Leitlinien, die der ärztlichen Behandlungspraxis zugrunde liegen, ernüchtert: Hier herrscht hinsichtlich der Geschlechterperspektive meist Fehlanzeige.

Gendermedizin ganz praktisch

Was folgt aus dieser Bestandsaufnahme für Frauen und Männer, die sich in ärztliche Behandlung begeben? Wichtig zu wissen: Bei der Gendermedizin handelt es sich nicht um eine neue ärztliche Fachrichtung. Sie ist auch nicht die Domäne von Gynäkologen, Andrologen oder Urologen, sondern geht alle medizinischen Disziplinen an. Für Ärzte, die eine entsprechende Fortbildung hinter sich gebracht haben, vergibt die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin die Zusatzbezeichnung »Gendermediziner/in«. Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione trägt sie. Die Internistin hat an der Charité habilitiert und rät allen Patienten und Patientinnen, sich nicht zu scheuen, Ärzte und Ärztinnen darauf anzusprechen, welche Rolle ihr Geschlecht bei bestimmten Untersuchungen, Diagnosen oder Behandlungen spielen kann.

Herzinfarkt

Der Deutsche Herzbericht führt jedes Jahr neu vor Augen, dass deutlich mehr Frauen als Männer an Herzerkrankungen sterben. Eine Ausnahme stellt der Herzinfarkt infolge erkrankter Herzkranzgefäße dar, hier gibt es generell eine höhere Zahl an Sterbefällen bei Männern. Der Herzinfarkt wird vorwiegend als »männliches« Phänomen wahrgenommen, weil Frauen bis zur Lebensmitte selten einen Infarkt bekommen, während Männer ihn öfter schon in jüngeren Jahren erleiden. Hauptgrund: Frauen sind durch die weiblichen Geschlechtshormone, allen voran Östrogen, vor Arterienverkalkung und Gefäßverschlüssen besser geschützt. Mit den Wechseljahren bröckelt allerdings dieser Schutz, denn der weibliche Organismus büßt die natürliche Hormon-Mitgift ein. Schon bei den unter 65-jährigen Frauen sterben mehr an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung als an Brustkrebs. Frauen, denen das nicht bekannt ist, unterschätzen ihr Risiko – auch weil der weibliche Infarkt nicht leicht zu erkennen ist. Während Männer meist über Schmerzen im Brustkorb klagen, die in den linken Arm ausstrahlen, können sich bei Frauen eher untypische Beschwerden in den Vordergrund schieben, etwa lediglich ein allgemeiner Schwächezustand, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen im Oberbauch oder im Rücken. Oft wird der Notarzt nicht gleich gerufen, ein Herzinfarkt kostet Frauen deshalb leichter das Leben.

Diabetes

Dass die Zuckerkrankheit (Typ-2-Diabetes) in Deutschland bei Männern und Frauen nahezu gleich häufig vorkommt, täuscht über teils gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern hinweg. Stichwort »Diabetesrisiko«: Durch chronischen Stress nimmt es bei Frauen zu, bei Männern hingegen ab. Und während das männliche Geschlecht bei niedrigem Testosteronspiegel stärker diabetesgefährdet ist, verhält es sich bei Frauen umgekehrt: Sie werden leichter zuckerkrank, wenn in ihrem Blut die Konzentration männlicher Geschlechtshormone hoch ist.

Grundsätzlich sind Frauen besser vor Typ-2-Diabetes geschützt als Männer. Die meisten werden deshalb erst nach den Wechseljahren zuckerkrank, versterben daraufhin allerdings früher. Eine Rolle dabei spielt, dass Diabetes bei vielen Frauen erst erkannt wird, wenn die Krankheit bereits lebenswichtige Organe wie das Herz oder die Nieren geschädigt hat. Das hat seinen Grund: Bei der Standarduntersuchung für erhöhte Blutzuckerwerte, der Messung des Nüchternblutzuckers, bewegen die Werte sich bei Frauen oft noch im grünen Bereich, obwohl bereits ein Diabetes besteht, und steigen erst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium an. Männliche Diabetiker hingegen weisen schon früh erhöhte Nüchternblutzuckerspiegel auf und erhalten von daher ihre Diagnose eher. Ein Problem, das sich leicht lösen ließe, meint Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Internistin und Leiterin der Gender Medicine Unit an der Medizinischen Universität Wien. Diabetes-Früherkennung sei auch bei Frauen möglich, indem statt des Nüchternblutzuckers der Blutzucker nach dem Essen gemessen werde. Dieser sei nämlich anders als bei Männern schon bei beginnender Erkrankung deutlich über der Norm.

Mehr entdecken