Psychosomatik 2.0: Ganzheitsmedizin auf neuen Wegen

Kein Befund und trotzdem krank: Körperliche Beschwerden, die sich nicht auf organische Ursachen zurückführen lassen, rufen die Psychosomatik auf den Plan. Ein ganzheitlicher Ansatz, der unklare körperliche Symptome an ihrer mutmaßlich seelischen Wurzel zu packen versucht. Vieles dabei blieb Spekulation und Stückwerk. Licht ins Dunkel bringt neuerdings die Psychoneuroimmunologie (PNI), eine Art Upgrade der Psychosomatik. Als verbreiteten, aber unterschätzten Krankmacher hat die PNI chronischen Stress identifiziert. »lebensart« erläutert, was an diesem Verdacht dran ist, und klärt, ob die Schlussfolgerung »Alles psychisch!« gerechtfertigt ist

Von Dr. Markus Weber

Es gibt eine Vielzahl körperlicher Beschwerden, die Rätsel aufgeben: Hausarzt und Fachärzte ziehen diagnostisch alle Register, trotzdem bleiben sämtliche Untersuchungen ohne Befund. Die Patienten klagen z. B. über Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme, Schwindel, Erschöpfung, Hautleiden oder chronische Infekte, doch es ist nichts zu entdecken, was auf eine organische Erkrankung hindeutet. So mancher wird dann mit »unklaren Körperbeschwerden« wieder nach Hause geschickt – ohne jede Behandlung. Der Ausgang ist offen: Mal verschafft die Erleichterung darüber, dass organisch alles in Ordnung ist, überraschend Linderung. Mal halten die Beschwerden an, werden sogar schlimmer.

Wie kann es sein, dass etwas sich »subjektiv« krank anfühlt, was »objektiv« gar nicht krank ist? Ist vielleicht die Voraussetzung falsch, ein körperliches Symptom müsse stets eine körperliche Ursache haben? Anders gefragt: Gibt es körperliche Symptome, die auf etwas Unkörperliches verweisen, auf eine Störung, die sich zwar organisch Ausdruck verschafft, aber nicht im Organischen wurzelt? Die Psychosomatik bejaht diese Frage, indem sie die Seele ins Spiel bringt: Psychisches wählt sich den Körper (griechisch: »soma«) zur Bühne, auf der es seine eigenen Nöte inszeniert. Ärzte bezeichnen diesen Vorgang als »Somatisierung« und fassen die vordergründig körperlichen, untergründig psychischen Krankheitserscheinungen als »somatoforme Störungen« zusammen.

Körper und Seele als Einheit

Für die Psychosomatik steht fest: Der Mensch erkrankt an Körper und Seele gemeinsam. Zugrunde liegt dieser ganzheitlichen Auffassung das jahrtausendealte Menschenbild, Körper und Seele seien kein loser Verbund, sondern eine fest zusammengeschweißte Einheit – und könnten deshalb im Gesund- wie im Kranksein aufeinander einwirken. Tatsächlich hat fast jeder schon einmal am eigenen Leib erfahren, dass die Psyche unsere Gesundheit beeinflusst, nämlich anhand hartnäckiger Herpesbläschen. Die Wiener Ärzte Dr. Robert Heilig und Dr. Hans Hoff teilten dazu schon 1928 in einem wissenschaftlichen Aufsatz mit, »Unlustaffekte« schwächten die Abwehrkräfte und begünstigten so den Ausbruch des Herpes labialis. Auch der sogenannte Placeboeffekt wird vor diesem Hintergrund erklärbar: Ein Scheinmedikament, das keinen Wirkstoff enthält, führt trotzdem zur Genesung, weil der Patient auf seine heilende Wirkung vertraut (»Placebo« bedeutet wörtlich: »Ich werde gefallen«). Diese lässt sich also nicht pharmakologisch erklären, sondern auf Zweckoptimismus zurückführen, mit anderen Worten: auf die Wirkkraft der Psyche.

Mit ihrem Menschenbild (»kein Körper ohne Seele, keine Seele ohne Körper«) stellt die Psychosomatik die Medizin auf eine breitere Basis, wie es schon der griechische Philosoph Platon in seinem Frühwerk »Charmides« propagiert hatte: »Das ist der größte Fehler bei der Behandlung von Krankheiten, dass es Ärzte für den Körper und Ärzte für die Seele gibt, wo beides doch nicht getrennt werden kann.« Dem widerspricht der Dualismus, eine Sichtweise, die Seele und Körper voneinander isoliert und Letzteren auf bloße Materie reduziert, vergleichbar einer Maschine. Der Dualismus verweist alles, was sich über eine angebliche Leib-Seele-Einheit aussagen lässt, ins Reich der Spekulation. Ein Kleinbeigeben vor der Komplexität der menschlichen Natur, aber auch ein nachvollziehbarer Reflex auf die Begründungsnot, in der sich die Psychosomatik lange befand: Selbst wer die Grundüberzeugung teilt, körperliche Beschwerden könnten irgendwie psychisch bedingt sein, wüsste es gerne genauer.

Kommunikation auf allen Ebenen

Licht ins Dunkel bringt die Psychoneuroimmunologie. Das Wortungetüm, abgekürzt: PNI, bezeichnet eine noch junge, fächerübergreifende Wissenschaftsdisziplin, die sich Mitte der 1970er-Jahre zuerst in den USA zu etablieren begann; als Pionier gilt der Psychologe Robert Ader (1932-2011). Die PNI erforscht das Zusammenspiel von Psyche, Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem, das für Gesundheit wie Krankheit bestimmend ist. Als eine Art Upgrade der Psychosomatik bedient sie sich u. a. Methoden aus Molekularbiologie und Genetik und stellt damit die Ganzheitsmedizin auf eine neue, tragfähige Basis. Die zentralen Resultate:

● »Wir wissen heute, dass Erleben und Verhalten die Aktivität des Immunsystems beeinflussen«, sagt Prof. Dr. Dr. Christian Schubert, Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie in Innsbruck. Als Vermittler fungiert das Nervensystem: Zum einen sind Immunzellen und Nervenfasern miteinander verkabelt. Zum anderen sprechen Immun- und Nervensystem eine gemeinsame biochemische Sprache: Sie kommunizieren mittels ihrer Botenstoffe und können sich so gegenseitig aktivieren.

● So, wie das Immunsystem die Informationen des Nervensystems »lesen« und in Aktivität umwandeln kann, so interpretiert umgekehrt das Gehirn die Signale des Immunsystems. Der Grund, warum sich bei Krankheit die Laune verdüstert und wir ein paar Gänge zurückschalten, um uns zu schonen – Mediziner nennen dieses Verhalten »sickness behavior«. Der Dichter Eugen Roth (1895-1976) drechselte Verse, die gut dazu passen: »Zwei Dinge trüben sich beim Kranken: a) der Urin, b) die Gedanken.«

● Seelischer Leidensdruck erzeugt echte somatische Krankheiten, nicht bloß vermeintliche, »somatoforme«, wie noch die traditionelle Psychosomatik annahm. Festmachen lässt sich dies an Angst, Depression sowie an chronischem Stress, den die Weltgesundheitsorganisation als eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts geißelt. Psychische Dauerbelastung hat zur Folge, dass der Körper langfristig zu viel Cortisol bildet. Eigentlich ein nützliches Hormon, das ein durch akuten Stress alarmiertes, hyperaktives Immunsystem wieder beruhigt, z. B. nach einer Prüfung. Immunzellen halten daraufhin Viren kurzzeitig schlechter in Schach – der Grund dafür, warum der schon erwähnte Lippenherpes aufblüht, sobald Stress nachlässt. Hält der Stress hingegen an, schwächelt unter dem Einfluss von Cortisol die zelluläre Immunabwehr weiter. Obendrein wird die humorale Immunabwehr, also jene mittels Antikörpern, angefeuert, was Autoimmunerkrankungen begünstigt, durch die der Körper sich selbst schädigt. Kurz: Chronischer Stress kann das Immunsystem komplett aus dem Lot bringen und derart fehlprogrammieren, dass es zu den unterschiedlichsten Entzündungskrankheiten kommt, u.  a. zu Allergien, Asthma, Gelenkrheuma (Polyarthritis), Gürtelrose und Neurodermitis; wahrscheinlich ist auch das Krebsrisiko erhöht.

Subjektives Stressempfinden

Wie verwundbar jemand tatsächlich für Stress ist, hängt von der individuellen Stressresistenz ab. Stress und sein Belastungsgrad werden nämlich subjektiv empfunden, bewertet und verarbeitet, abhängig von Prägungen, die – so eine weitere Erkenntnis der PNI – biografisch bis in die frühe Kindheit, ja sogar die Zeit im Mutterleib zurückreichen. Zu viel Stress während der Schwangerschaft und traumatische Erfahrungen während der kindlichen Entwicklung können zu bleibenden Defiziten bei der Stressverarbeitung führen – mit den beschriebenen Krankheitsfolgen.

Erkenntnisse, die laut Professor Schubert völlig neue Möglichkeiten für die Behandlung z. B. von Autoimmunerkrankungen eröffnen: »Psychotherapie könnte somatische Erkrankungen heilen. Erste Forschungsergebnisse zeigen, dass das Stresssystem von Kindern sich verändert, wenn man schwer belasteten Familien beisteht, Probleme zu reduzieren. Es gibt allerdings Psychotherapien, die sehr oberflächlich sind und auch gar nicht von einer Heilungsaussicht ausgehen. Wir brauchen daher nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Psychologie und Psychotherapie eine grundlegende Neuausrichtung auf den Menschen in seiner biopsychosozialen Ganzheit.«

Die PNI verleiht damit der Vision einer personalisierten Medizin Nachdruck und konkretisiert sie: Mind-Body-Ärzte leisten echte Einzelfallbehandlung und schöpfen dabei aus einem therapeutischen Spektrum von gesprochenem Wort bis Hormongabe. Auf den sogenannten medizinischen Fortschritt, spektakuläre Durchbrüche bei der Gentherapie etwa, ist die PNI nicht angewiesen; das bestehende Therapieangebot birgt jede Menge ganzheitsmedizinisches Potenzial. Und auch Raum für Beziehungsmedizin: »Das wichtigste Lebenselixier sind positive menschliche Beziehungen«, unterstreicht Schubert – und spielt damit sowohl auf das Therapeuten-Patienten-Verhältnis als auch die sonstige soziale Einbettung an. Die Selbstregulation fördern, sprich: die Funktion des Immunsystems verbessern, die Stressverarbeitung effektiver machen und Heilblockaden lösen können überdies Entspannungstechniken, Meditation sowie das Führen eines Tagebuchs, dem man tiefe Gedanken und Gefühle anvertraut. Religiöse Menschen profitieren vom Besuch des Gottesdienstes: »Es gibt viele Studien, die zeigen konnten, dass der regelmäßige Kirchgang Entzündungsfaktoren senkt und die Lebenserwartung um 26 Prozent steigern kann.«

Alles psychisch?

Bleibt noch zu klären: Wenn die PNI der Psychotherapie zutraut, auch körperliche Krankheiten heilen zu können, ist dann jede Krankheit eine Seelenkrankheitzu nennen, wie der Dichterphilosoph Novalis (1772 – 1801) meinte, und auf Psychotherapie angewiesen? »Entgegen der weitverbreiteten Meinung werden Sie von einem Psychosomatiker nie den Satz ›Das ist psychisch‹ hören«, sagt Dr. Wolf Lütje, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Ev. Amalie Sieverking-Krankenhaus, Hamburg. In der Psychosomatik bestehe die Kunst darin, eine ganzheitliche Grundhaltung einzunehmen, d. h. die Psyche zu behandeln, ohne den Körper zu vernachlässigen. Außerdem stellt sich die Beteiligung der Psyche sehr unterschiedlich dar: Seelische Faktoren können körperliche Krankheitserscheinungen mal verursachen, mal lediglich auslösen oder verstärken. »Alles psychisch!« – dieses Diktum wäre also ebenso einseitig und kurzsichtig, wie in Krankheitsdingen alles auf die Gene zu schieben. Schwarz-Weiß-Denken ist fehl am Platz, wo es um Ganzheitlichkeit geht – also eben nicht länger um seelenlose kranke Körper und körperlose kranke Seelen. 

PNI ganz praktisch

● Bevor Sie zum Arzt gehen, weil Sie körperlich kränkeln, denken Sie in einer ruhigen Minute einmal über die zurückliegenden Tage und Wochen nach: Fallen Ihnen Situationen oder Ereignisse ein, die Sie seelisch stark belastet haben? Hat Sie jemand beruflich oder privat ausgenutzt oder im Stich gelassen? Ist eine Beziehung zerbrochen oder eine Ihnen nahestehende Person verstorben? Oder vermissen Sie ganz allgemein in Ihrem Alltag Sinn und Orientierung, können sich zu nichts richtig aufraffen und haben an vielen Dingen die Freude verloren?

● Suchen Sie einen Arzt auf, zu dem Sie persönlich Vertrauen haben und von dem Sie wissen, dass er Ihnen zuhört. Erzählen Sie ihm, wo Sie körperlich und seelisch der Schuh drückt – er kann beurteilen, ob ein Zusammenhang besteht.

● Ärzte für Psychosomatische Medizin sind recht dünn gesät. Sollte Ihnen der Weg zu weit sein, erkundigen Sie sich, ob Ihnen bekannte Ärzte bei Bedarf mit Fachärzten für Neurologie und Psychotherapie zusammenarbeiten.

Zum Weiterlesen:

● »Was uns krank macht, was uns heilt: Aufbruch in eine Neue Medizin. Das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele besser verstehen«, Christian Schubert u. Madeleine Amberger, Verlag fischer & gann 2016, 240 S.

● »Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie«, hg. v. Christian Schubert, Schattauer Verlag 2015, 2. Aufl., 472 S.

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