von Wolf Weyergraf
Die größten Wunder gehen in der größten Stille vor sich, meinte der Erzähler Wilhelm Raabe. Man könnte glauben, er habe dabei an unser Immunsystem gedacht. Rund um die Uhr verteidigt es uns gegen Erreger, und meistens bekommen wir davon gar nichts mit. Doch manchmal gerät auch dieses medizinische Wunder in Bedrängnis.
Es ist ein Bild von rahmensprengender Wucht, eine Phalanx der Vernichtung, die alles hinwegfegt, was sich ihr in den Weg stellt: die vier apokalyptischen Reiter von Albrecht Dürer. In der Offenbarung des Johannes stellen sie die großen Plagen der Menschheit dar – Krieg, Machtmissbrauch, Hunger und Seuchentod. Als Dürer seinen Holzschnitt Ende des Spätmittelalters präsentierte, gaben sie noch den Ton an. Heute schienen wir zumindest in Europa die Übel im Griff gehabt zu haben. Doch dann kam Corona. Und mit dem Virus die Erkenntnis, dass wir viel weniger kontrollieren, als wir dachten.
Infektionen wie Covid-19 sind eine Chiffre für die ständige Bedrohung des menschlichen Daseins. Sie wurden schon früh als von außen kommend erkannt und forderten vielleicht aus diesem Grund stärker als andere Krankheiten zur Auseinandersetzung heraus – wissenschaftlich wie künstlerisch. Auch der berühmte Tennisball mit Tulpen wurde von Künstlern nach Forscherangaben gemalt. Allerdings löst das Corona-Funktionsbild in unserer Wissensgesellschaft weniger irrationale Weltuntergangsfantasien aus, sondern eher die Sehnsucht nach Sicherheit oder genauer: den Wunsch nach Immunität. Das ist Grund genug, diesen Zustand genauer unter die Lupe zu nehmen. Was macht Immunität aus? Was gefährdet die Abwehrkräfte? Und was kann man tun, um sie zu stärken?
Körperpolizei auf Streife
Gesundheit schätze man erst, wenn man sie verloren habe, sagt ein Sprichwort. Unser Immunsystem führt uns dies gut vor Augen. Denn seinen Job erledigt es in der Regel so dezent wie effektiv. Als eine Art Körperpolizei auf permanenter Streife wehrt es sich gegen Erreger. Die allermeisten Infektionen werden abgeblockt, ohne dass wir es bemerken. Doch zuweilen gibt es Abwehrkämpfe, bei denen Beschwerden unvermeidbar sind. Dann leiden wir etwa unter Schnupfen, Husten oder Fieber – Symptome mit dem Zweck, die Eindringlinge wieder loszuwerden.
Bei unseren Abwehrkräften von einem System zu sprechen, ist gerechtfertigt: Organe, Zellen und Botenstoffe arbeiten im Verbund. Die ersten Abwehrreaktionen finden in der Haut und den Schleimhäuten statt, die eine anatomische Barriere gegen Erreger bilden. Auch die Magensäure gehört zu dieser Verteidigungslinie: Sie schützt uns vor Aggressoren, die über die Nahrung Einzug halten. In der Nase hat die Schleimhaut zusätzlich Flimmerhärchen. Sie bewegen sich hin und her und transportieren so unerwünschte Besucher Richtung Ausgang.
Haben sich schädliche Mikroorganismen trotz allem Eintritt verschafft, sind wir nicht hilflos: Unser Immunsystem verfügt über ein enormes Arsenal von Abwehrzellen, die auf verschiedene Aufgaben spezialisiert sind. Die Arbeitsteilung hat Sinn, da Erreger unterschiedliche Organe befallen und dort individuell bekämpft werden müssen. Gleichzeitig haben manche Organe eine besondere Funktion für diese Zellen. Das Knochenmark etwa bildet ihre meisten Vorstufen aus, die Milz speichert sie, die Lymphknoten und Lymphbahnen fungieren als Sammelstellen und Transportwege, in der Thymusdrüse reifen die wichtigen T-Zellen aus. Im Zentrum aber steht der Darm, der mehr als zwei Drittel aller Immunzellen beherbergt. Sie befinden sich im Austausch mit den Billionen von Darmbakterien, was sie fit hält für ihre Abwehrarbeit, die 80 Prozent unserer Immunantworten ausmacht.
Medikamente oder Krankheiten wie HIV, die die Resistenzen kollabieren lassen. Genau das Gegenteil geschieht im Fall von Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Typ-1-Diabetes. Die Abwehr attackiert dann die Strukturen des eigenen Körpers. Auch bei Allergien ist sie überaktiv und greift harmlose statt gefährliche Eindringlinge an. Solche Phänomene signalisieren, worauf es ankommt beim Immunstatus: Er muss im Gleichgewicht sein, um zu funktionieren.
Dieser Maxime folgen alle immunologischen Empfehlungen. Vor allem, was die Ernährung betrifft. Für sie gilt: Je ausgewogener, desto besser. Dennoch lassen sich manche Lebensmittel hervorheben. Knoblauch mit seinem hohen Gehalt an keimtötendem Allicin etwa, farbintensive Beerenarten voller Flavonoide gegen Allergien, freie Radikale und Viren oder Kräuter wie Thymian, Rosmarin und Majoran, die viele Antioxidantien zum Schutz vor frühzeitiger Zellalterung enthalten.
Natürlicher Gedächtniskünstler
Das Immunsystem insgesamt lässt sich in eine angeborene und eine erworbene Abwehr unterteilen. Die erstere erkennt fremde Reize über vererbte Mechanismen und besteht vor allem aus Fresszellen. Sie werden von Botenstoffen zu Infektionsherden gelockt und eliminieren dort Krankheitserreger, ohne zwischen ihnen zu unterscheiden. Anders verhält es sich mit der erworbenen Variante, die spezifisch arbeitet, indem sie konkrete Abwehrstoffe gegen bestimmte Erregerarten entwickelt. Diese Antikörper heften sich an den Eindringling, worauf er von den Fresszellen zerstört wird. Das Besondere der erworbenen Abwehr: Sie besitzt ein immunologisches Gedächtnis, das uns in die Lage versetzt, bei einer erneuten Infektion schnell passende Antikörper zu bilden.
Auch wenn unser Immunsystem robust ist, kann es geschwächt werden – sei es durch falschen Lebensstil,
Die Menge macht‘s
Die Vitaminversorgung spielt auch eine große Rolle. Das für eine intakte Immunabwehr essentielle Vitamin D – es steckt vor allem in fettem Fisch – nehmen wir jedoch nur zu höchstens 20 Prozent über die Nahrung auf. Das „Sonnenvitamin“ wird vielmehr unter Einfluss von UV-BStrahlung in der Haut gebildet. Moderates Sonnenbaden ist also besser als sein Ruf. Im notorisch winterdunklen Schweden zogen Forscher in einer Studie von 2016 sogar das Fazit, dass Sonnenvermeidung das Sterberisiko ähnlich erhöhe wie Rauchen.
Glaubt man Friedrich Nietzsche, macht uns stärker, was uns nicht umbringt. Doch diese Abhärtungsformel hinkt. Dass nach Paracelsus die Dosis das Gift mache, stimmt eher. Der Naturphilosoph fand heraus, dass kleine Mengen eines eigentlich schädlichen Reizes die Abwehrkräfte stimulieren. Dieses Wirkprinzip ist beim Sport gegeben, der den Körper an und für sich unter Stress setzt: Die Muskulatur kämpft mit Sauerstoffmangel, giftige Moleküle entstehen, der Körper läuft heiß. Doch statt zu schaden, stößt dieser Prozess Schutz- und Reparaturprozesse an, die unserem Immunstatus zugutekommen. Vorausgesetzt wir übertreiben es nicht. Sonst droht der „Open-Window-Effekt“: Bei Belastungen steigen die Abwehrzellen im Blut stark an. Entspannt sich der Organismus wieder, fallen sie unter den Ausgangswert. Wir sind dann eine Zeit lang Angriffen wehrloser ausgesetzt als sonst.
Die ultimative Entspannung ist natürlich der Schlaf. Dass dem so ist, hat auch mit seiner Wirkung auf unsere Abwehr zu tun. Wie eine Studie der Universität Tübingen im Februar 2019 zeigte, unterstützt Schlaf die T-Zellen als Hauptspieler des Immunsystems. Herrscht dagegen ein Mangel von nur drei Stunden, reduziert dies ihre Fähigkeit, an befallenen Körperzellen anhaften und sie dann zerstören zu können. Das erhöhte Schlafbedürfnis bei Infekten ist somit ebenso verständlich wie die typische Appetitlosigkeit: Durch die fehlenden Kohlenhydrate bilden sich Ketonkörper, die entzündungshemmend in den Stoffwechsel eingreifen.
Immunbotschaften ins Gefühlsleben
Je mehr man sich mit ihr beschäftigt, desto klarer wird: Es gibt kaum einen Aspekt unseres Organismus, der nicht mit der Körperabwehr verflochten wäre. Da dies auch auf die Nervenzellen zutrifft, hat das Immunsystem sogar Einfluss auf unsere Psyche. So fanden Wissenschaftler bei Depressiven erhöhte Konzentrationen von entzündungsfördernden Immunbotschaften im Blut. „Evolutionsbiologisch ist das sinnvoll, dass man schon Tage vor einer Infektion nicht aus dem Kreuz kommt“, meint der Verhaltensimmunbiologe Manfred Schedlowski vom Universitätsklinikum Essen. „Schon Steinzeitmenschen verkrochen sich dann lieber allein in einer Höhle. So entgingen sie dem Säbelzahntiger und steckten andere nicht an.“
Andererseits steht auch fest, dass Berührungen unser Immunsystem stärken. Wie genau, ist noch nicht geklärt. Aber man weiß, dass die Verbindung von Hautkontakt und Gefühlen Oxytocin ausschüttet. Das „Kuschelhormon“ baut Stress ab, reduziert Ängste und kräftigt die Abwehr. Der „Weltknuddeltag“ ist darum richtig gewählt: Er findet am 21. Januar statt, mitten in jenen dunklen und nasskalten Wochen, in denen es unser Immunsystem am schwersten hat. Allein schon deswegen ist es höchste Zeit, dass wir die Corona-Pandemie überwinden. Mit anderthalb Metern Abstand umarmt es sich einfach schlecht.
Corona-Hotspot Mundraum
Was haben eine Geburtstagsparty, ein Gottesdienst und ein Fußballstadion gemeinsam? Alle drei sind Hotspots für die Verbreitung des Corona-Virus. Doch während die Gesellschaft unzählige Ansteckungsherde mit ähnlich hohem Gefährdungspotenzial kennt, konzentriert sich das Infektionsrisiko im Körper auf die Mundhöhle. Stärker als irgendwo sonst ballen sich in ihrer Schleimhaut Rezeptoren, die SARS-CoV-2 benötigt, um in unseren Organismus zu gelangen. Gerät die bakterielle Zusammensetzung des Mundraums aus der Balance und verursacht eine Parodontitis, hat das Virus leichtes Spiel. Aber nicht nur das. Die Zahnfleischentzündung bedroht zudem typische Corona-Risikogruppen wie Diabetiker und Herz-Kreislauf-Patienten immens. Bedenkt man, dass jeder zweite Deutsche an Parodontitis leidet, ist klar, wie groß die Bedeutung einer Keimreduktion in Mund und Rachen ist. Experten empfehlen darum:
- Eine gewissenhafte und korrekte Mundhygiene sowie Zungenreinigung
- Regelmäßige zahnärztliche Kontrollen und Prophylaxemaßnahmen
- Eine professionelle Zahnreinigung zwei Mal pro Jahr
- Gegebenenfalls eine antibakterielle Mundspüllösung nach zahnärztlichem Rat