Vorsorge – Licht ins Dunkel

von Wolf Weyergraf

Wenn Phänomene mit einem neuen Begriff geadelt werden, scheint es ernst zu sein. In diesem Fall ganz sicher:
Die »Präventiophobie« beschreibt die Angst vor schlechten Nachrichten infolge ärztlicher Vorsorge. Dabei schafft die Früherkennung erst die Voraussetzungen dafür, viele Segnungen der modernen Medizin nutzen zu können. Stand nicht alles zum Besten? Die Patientin rauchte nicht, trank wenig Alkohol, trieb regelmäßig Sport. Sie ernährte sich ausgewogen, mied Stress, achtete auf genügend Schlaf und pflegte ihre Freundschaften. Alle Hoffnungen auf ein aktives Alter bei bester Gesundheit waren mehr als gerechtfertigt. Dachte sie. Doch dann kam die Diagnose. Darmkrebs mit Ende 50.

Ein solcher Befund ist nicht nur niederschmetternd. Er ist auch besonders ärgerlich. Denn an Darmkrebs müsste in Deutschland kaum noch jemand ernsthaft erkranken. Durch regelmäßige Vorsorge kann die zweithäufigste Krebsart verhindert oder in einer so frühen Entwicklungsstufe aufgespürt werden, dass sie sich gut heilen lässt. Dennoch wird hierzulande pro Jahr bei rund 60.000 Menschen Darmkrebs diagnostiziert – alle acht Minuten aufs Neue. Um die 26.000 sterben sogar daran. Und das, weil nicht einmal jeder fünfte Berechtigte die Früherkennungsuntersuchung wahrnimmt.

Was für sogenannte kolorektale Karzinome zutrifft, gilt für viele weitere Krankheiten: Je eher sie entdeckt werden, desto erfolgreicher können Medizin und Betroffene handeln – sei es dank Hautscreenings oder gynäkologischer Checks, dank augenheilkundlicher Kontrollen oder zahnmedizinischer Prophylaxe. Weil das obendrein preiswerter ist als jede Therapie, bieten die privaten und gesetzlichen Krankenkassen breite Spektren an Vorsorgemaßnahmen, die jeder in Anspruch nehmen sollte. Auch dann, wenn er sich topfit fühlt. Wenn er glaubt, auf der sicheren Seite zu stehen. Oder wenn seine Angst vor der Kontrolle größer ist als die Angst vor der Erkrankung selbst. Es handelt sich dabei um eine Furcht von solcher Relevanz, dass man für sie unlängst den schon erwähnten Begriff erfand: »Präventiophobie«. Nicht zuletzt sie ist schuld daran, dass weniger als jeder zweite Mann und nur jede dritte Frau regelmäßig zu solchen Untersuchungen gehen, wie das Marktforschungsinstitut GfK ermittelte.

 

Schlüssel für medizinischen Erfolg

Die Koloskopie der Darmkrebs-Vorsorge besitzt tatsächlich ein schwieriges Image. Nicht nur, dass Patienten ein Abführmittel trinken müssen, um tags zuvor den Darm zu reinigen; viele haben auch Angst vor einer Verletzung. Dabei läuft die Spiegelung praktisch komplikationsfrei und von den Patienten unbemerkt ab. Sie befinden sich in einem Dämmerschlaf, der keine Vollnarkose ist und somit den Kreislauf schont. Mit einem Endoskop wird dabei im Innern des Dickdarms nach Polypen gesucht, aus denen sich Karzinome entwickeln können. Findet der Arzt ein solches Geschwulst aus dem Drüsengewebe der Schleimhaut, kann er es gleich problemlos abtragen. Da im Alter die Wahrscheinlichkeit für bösartige Degenerationen steigt, sollten Männer ab 50 und Frauen ab 55 Jahren diese Chance unbedingt wahrnehmen. Immerhin profitieren sie auf diese Weise auch vom technischen Fortschritt, der im vergangenen Jahrzehnt geradezu explodiert ist – zuweilen unterstützt heute bereits Künstliche Intelligenz die Polypensuche.

Die Vorsorge in einer allgemeinmedizinischen oder internistischen Praxis ist dagegen der Generalist unter den Kontrollen. Am Anfang steht hier das eingehende Gespräch über die individuelle Situation, die Krankengeschichte und andere Risikofaktoren. Erst dann zeichnen Checks ein detailliertes Bild des Gesundheitszustandes. Sie reichen von Laboruntersuchungen des Blutes und des Urins über Ruhe- und Belastungs-EKGs bis zu Lungenfunktionsprüfungen und verschiedenen Ultraschall-Kontrollen.

Zuweilen sorgen solche Maßnahmen für Kontroversen unter Experten, da sie die statistische Rate von Herzinfarkten und Schlaganfällen nicht signifikant senken helfen. Erklären lässt sich dies insbesondere durch ihre geringe Inanspruchnahme:

Nach Krankenkassenangaben nutzen nur rund 17 Prozent das Angebot. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass gerade jene anderen 83 Prozent profitieren würden, die solche Arztbesuche offensichtlich scheuen. Man muss dieses Feld nur genauer in den Blick nehmen, um die Bedeutung der Vorsorge auch hier zu erkennen. Denn sicher ist: Die 300.000 deutschen Herzinfarktfälle pro Jahr haben ihr Schicksal zumeist selbst in der Hand. Neben Nikotinabstinenz, zwei bis drei Stunden Sport pro Woche und gesunden Ernährungsformen wie etwa der Mittelmeerdiät gehört dazu der Check möglicher, häufig familiär bedingter Vorbelastungen bei einem Kardiologen. Abhängig von der individuellen Gefährdung sollte jeder sein Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme ab dem 40. oder 50. Lebensjahr kontrollieren lassen.

 

Vorsorge macht stark

Geht es um Herzkrankheiten als die häufigste Todesursache in Deutschland, wird die Bedeutung von Ausdauersport betont. Wie Studien der Harvard Medical School in Boston jetzt zeigen, lassen sich mit Krafttraining jedoch ähnliche Effekte erzielen. Bei Männern reicht demnach schon eine halbe Stunde pro Woche, um das Risiko um 23 Prozent zu senken. Frauen kamen auf 17 Prozent, was man darauf zurückführt, dass sie weniger an Muskelmasse zulegen. Genau hier liegt der Punkt: Wenn die Muskeln wachsen, bauen sie ein breitflächiges Kapillarnetz auf, das den Blutdruck verbessert und so das Herz-Kreislauf-System entlastet. Und da mehr Kraft auch mehr Energie verbraucht, stellten die Forscher darüber hinaus eine Optimierung der Blutfettwerte fest. Konkret: Ein zweistündiges Krafttraining pro Woche senkt auch das Diabetes-Risiko um 20 Prozent.

Männer profitieren nicht nur physiologisch besonders vom Krafttraining. Wenn man so will, passt die Hantelbank auch zu ihrem typisch männlichen Unverwundbarkeitsmythos, der das Eingestehen von Schwäche erschwert. Bei der Bereitschaft zur Vorsorge steht ihnen der allerdings im Weg. Während Frauen früh an gynäkologische Kontrollen gewöhnt werden, bauen Männer keine Affinität zu solchen Maßnahmen auf. Dass sie dann ab 45 damit beginnen sollen, leuchtet vielen nicht ein.

Urologen können ein Lied davon singen, wenn es um den Check der Prostata geht. Dabei ist die gefürchtete Tastuntersuchung fast schneller vorbei, als Patienten sie in den paar Sekunden Dauer registrieren können. Und die Bestimmung des prostataspezifischen Antigens beziehungsweise PSA-Werts – ein nur von der Vorsteherdrüse gebildetes Eiweiß, das die Wahrscheinlichkeit eines Tumors und die Notwendigkeit einer Gewebeprobe angibt – ist trotz aller berüchtigten Fehlalarme ein hilfreiches Instrument. Das legt zumindest eine Erhebung mit 160.000 Teilnehmern nahe:
Unter 10.000 Männern zwischen 55 und 69 starben in der Gruppe, die über 16 Jahre hinweg regelmäßig den PSA-Wert kontrollierte, signifikant weniger Teilnehmer an Prostatakrebs als in jener, die auf Tests verzichtete.

Nicht nur mit Blick auf die Prostata gewinnt heute eine weitere Methode immer mehr an Bedeutung für die Vorsorge: die Magnetresonanztherapie oder kurz MRT. Die Technologie bietet oft eine faszinierend exakte Alternative zur üblichen zeitaufwendigen Diagnostik. Vor allem bei der Feststellung entzündlicher rheumatischer Erkrankungen und der Tumordiagnostik am Kopf, am Hals, im Bauchraum, in den Weichteilen oder in den Knochen leistet die bildgebende Analyse heute viel – und das in einem einzigen Durchgang sowie gänzlich ohne Strahlenexposition.

Die Medizin sei eine Leuchte ins Innere, sagt ein afrikanisches Sprichwort und lässt damit nicht nur an die Radiologie denken. Schließlich bringen alle Vorsorgeuntersuchungen Licht ins Dunkel der Vorgänge unseres Körpers. Die Früherkennung ist deswegen viel mehr als nur irgendein Routineakt. Sie ist der Königsweg zu den atemberaubenden Möglichkeitender modernen Medizin.

 

Der Check-Up der gesetzlichen Krankenkassen

Auf wissenschaftlicher Basis entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss über Kassenleistungen wie etwa den »Checkup« für Versicherte ab dem 18. Lebensjahr. Die Untersuchung soll Risiken frühzeitig erfassen und häufige Krankheiten erkennen. 18- bis 34-Jährige haben einen einmaligen Anspruch darauf, Versicherte ab 35 alle drei Jahre. Inbegriffen sind eine Anamnese, eine Ganzkörperuntersuchung, eine Blutdruckmessung, eine Erfassung des Impfstatus sowie die Kontrolle individueller kardiovaskulärer und onkologischer Risikofaktoren inklusive einer Beratung zur individuellen Gefährdung und Prävention. Ab 35 werden außerdem der Urin sowie die Blutzucker- und Cholesterinwerte geprüft. Von dieser Altersgrenze an haben Versicherte seit Oktober 2021 auch die Möglichkeit, sich im Rahmen des Check-ups einmalig auf die Viruserkrankungen Hepatitis B und Hepatitis C testen zu lassen.

Mehr entdecken