LebensartMED Redaktion: Resilienz | Das Immunsystem der Seele

von Wolf Weyergraf

Der Begriff der Resilienz mag seit 30 Jahren en vogue sein. Doch war er je so aktuell wie heute? Klimawandel, Überalterung, Inflation, Krieg, Massenmigration: Das Krisen-Stakkato versetzt unser Hirn in Dauerstress. Dazu kommt die Allgegenwart des digitalen Multitaskings. Der Kampf um die eigene Widerstandskraft, so viel steht fest, wird immer mehr zu einem medizinischen Problem.

Was waren das für Zeiten! Die Love Parade fungierte als Hochamt der letzten echten Jugendbewegung, Literatur wurde zu Pop, die New Economy mischte die Wirtschaft auf: Die neunziger Jahre waren voller Wagemut und Gründergeist. Heute jedoch ist der Enthusiasmus dieser knallbunten Dekade einem prekären Lebensgefühl gewichen. Der Soziologe Heinz Bude bescheinigt uns sogar ein Leben in einer »Gesellschaft der Angst«. Geht es nach ihm, wird der Kapitalismus zunehmend als eine Art Krisenzusammenhang erlebt. Es herrscht das Empfinden, in eine Welt geworfen zu sein, die einem nicht mehr gehört. Die Folge: Auch unter ganz normalen Leuten breiten sich Erschöpfungsdepressionen aus. Laut »DAK Psychoreport 2021« nahm die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen zwischen 2010 und 2020 um 56 Prozent zu, während sich im gleichen Zeitraum beim Krankenstand insgesamt kein vergleichbarer Aufwärtstrend beobachten ließ.

Superkraft Resilienz
Umso beeindruckender sind die geborenen Stehaufmännchen. Die Rede ist zum Beispiel von Selbstständigen, die während der Pandemie über Nacht ohne Aufträge dastanden, aber nicht daran verzweifelten, sondern Spanisch lernten, Ehrenämter übernahmen oder sich sogar daran erfreuten, dass sie nun mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen konnten. Die Frage ist: Welchen Zaubertrank hatten die intus? »Resilienz« nennen Psychologen diese Widerstandskraft, die manche Menschen mehr als andere gegen Schicksalsschläge wappnet. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie »abprallen« oder »zurückspringen«. In der Physik bezeichnen Wissenschaftler ein Material als resilient, wenn es nach Druck von außen wieder in seine ursprüngliche Form zurückfindet wie ein Schwamm.

Mutter der Resilienzforschung
Den Beginn der Resilienzforschung markiert eine Langzeitstudie der amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy Werner aus den siebziger Jahren. Über drei Jahrzehnte hatte sie den Werdegang von rund 700 hawaiianischen Kindern erforscht. Etwa ein Drittel von ihnen führte trotz äußerst schwieriger Startbedingungen ein erfülltes Erwachsenenleben und lieferte der Wissenschaft erste Anhaltspunkte dafür, was resiliente Menschen ausmacht: Sie besaßen in der Kindheit jemanden, der zu ihnen gestanden hatte. Sie hatten sich als selbstwirksam erlebt, also festgestellt, dass sich etwas ändert, wenn sie entschieden handeln. Und sie verfügten über eine mindestens mittlere Intelligenz.

Mehr Verhalten als Gene
Lange Zeit hielt man Resilienz für angeboren, was das Wissen um sie wenig anwendbar erscheinen ließ. Heute ist die Sichtweise eine andere. »Wir schätzen, dass höchstens 20 bis 30 Prozent der Resilienzfähigkeit genetische Veranlagung sind«, sagt Klaus Lieb, Direktor des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung in Mainz. Viel bedeutsamer seien sogenannte Lern und Bewältigungserfahrungen, die jemand in seinem Leben mache. Zudem sei Resilienz ein dynamischer Prozess: Mal ist man besonders widerstandskräftig, mal weniger.

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Stress als Impfstoff
Bedeutet dies, dass man Resilienz trainieren kann? Durchaus, aber nicht im Sinne von fertigen Lösungen und schnellen Tipps. Seminare, die derartige Dinge versprechen, gelten in der Forschung als unseriös. Vielmehr entscheidet die Kleinarbeit: So wie das Immunsystem durch den Kontakt mit Krankheitserregern gestärkt wird, stählen sich die psychischen Abwehrkräfte in den nervenaufreibenden Zumutungen des Alltags, jenen »daily hassles« wie Staus auf der Autobahn, inkompetente Chefs oder übellaunige Nachbarn. »Es braucht ein gesundes Maß an Problemen, um resilient zu werden«, sagt Henrik Walter, Leiter des Forschungsbereiches »Mind and Brain« an der Charité in Berlin. Wer eine Belastung gut überstanden hat, ist demnach für die nächste besser gewappnet, kann auf diese Erfahrung zurückgreifen wie auf einen Werkzeugkasten. Stress hat insofern etwas von einer Impfung

Training ist Vorsorge
Die seelischen Abwehrkräfte lassen sich zwar durch solche wohldosierten Mikrostressoren und durch Schutzfaktoren wie Methoden der Stressbewältigung, eine optimistische Haltung, Selbstwirksamkeitserwartung, ein gut bestellter Freundeskreis, Bewegung und gesunde Ernährung aufbauen. Sie schwinden allerdings wie Muskeln, wenn man mit dem Training aufhört. »Resilienz ist ein kostbares Gut, auf das ich achtgeben muss«, sagt Klaus Lieb und beklagt, dass genau dies zu selten geschehe: »Leider sind viele Menschen noch weniger bereit, für ihre psychische Verfassung Vorsorge zu treffen, als ihr Risiko für Krebs zu senken.«

Seele ruft Körper
Unbewältigte psychische Belastungen führen häufig zu einem chronischen Stresssyndrom, das nicht nur das seelische Gleichgewicht, sondern praktisch alle Körperfunktionen schädigen kann. »Eine mögliche Folge sind dann beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem befinden sich im Blut dauerhaft gestresster Menschen mehr Entzündungsmarker – Alarmsignale, die das Risiko für viele weitere Gesundheitsprobleme erhöhen«, sagt Dr. Klaus Schmidt-Thomé von der ganzheitsmedizinisch ausgerichteten Stadtwaldpraxis in Köln.

Königsweg Aktivität
Sicher ist: Aktive Strategien gegen Stressoren, bei denen man die Zügel selbst in die Hand nimmt, sind effektiver als passive, die bloß zu mehr Hilflosigkeit führen. Aktiv ist etwa eine gute Emotionsregulation, bei der negative Gefühle im ersten Schritt lediglich als Information wahrgenommen werden: Dort lauert vielleicht etwas Gefährliches. Im zweiten Schritt ist dann auseinanderzuhalten, ob es sich um eine tatsächliche Gefahr handelt, oder ob sie sich nur so anfühlt. Ein Hund mit gefletschten Zähnen etwa macht Angst. Aber wenn er eng an der Leine geführt wird, kann nichts passieren.

Eine Frage der Bewertung
PAS oder »Positive Appraisal Style« nennen Resilienzforscher diesen positiven Bewertungsstil, den sie als maßgeblichen Schutzfaktor gegen stressbedingte Erkrankungen ins Feld führen. Er hebt nicht ab auf eine verfälschende rosarote Brille, was eher riskant wäre. Vielmehr geht es darum, die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Größe der Bedrohung als realistisch und das Bewältigungspotenzial als hoch einzuschätzen. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, der während des Zweiten Weltkriegs Auschwitz und drei weitere Konzentrationslager überlebte, sagte es so: »Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.« Allerdings: Freiheit kann auch bedeuten zu akzeptieren, dass es gar nichts zu bewältigen gibt. Die digitalen Medien mit ihrer Eigenschaft, den Raum und die Zahl seiner Möglichkeiten ins Unendliche zu steigern, vergrößern nur zu oft den Phantomschmerz über alles Verpasste. Vielleicht haben die Chinesen das im Sinn, wenn sie sagen: Wer loslässt, hat zwei Hände frei.

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