Wenn der Kiefer Druck macht

Tinnitus, Migräne, Rückenschmerzen:
Hinter solchen Beschwerden kann eine Craniomandibuläre Dysfunktion stecken. Die Funktionsstörung im Kiefergelenk bleibt lange unentdeckt. Doch ist sie diagnostiziert, stehen die Aussichten auf Linderung gut.

von Wolf Weyergraf

Wenn der Kiefer Druck macht 1

Sensibilität für den Kiefer

Glaubt man der Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik (GZFA), leiden ungefähr 20 Prozent der Menschen in Deutschland unter einem behandlungsbedürftigen Symptom der CMD. Bis der Kiefer als Ursache erkannt ist, steht allerdings oft eine Odyssee von Arztbesuch zu Arztbesuch an. Kontaktiert etwa ein Patient, der am linken Ohr unter einem Tinnitus und in der linken Schulter unter Schmerzen leidet, nacheinander einen HNO-Arzt und einen Orthopäden, verschreibt der HNO-Arzt eine Therapie gegen Ohrgeräusche, während der Orthopäde Schmerzspritzen verabreicht. Dass die Quelle beider Beschwerden aber im Kiefergelenk zu suchen ist, erkennt erst ein fachlich weitergebildeter Zahnarzt, Kieferorthopäde oder Gesichtschirurg, der für das Problem der Craniomandibulären Dysfunktion sensibilisiert ist.

Selbstverständlich ist auch der Kiefer selbst ein Ort unangenehmer Beschwerden bei einer CMD. Die Schmerzen betreffen die Muskeln, den Knochen und die Zähne. Oft knackt und knirscht es bei jeder Kaubewegung, manchmal lässt sich der Mund nicht mehr richtig öffnen. Sieht man sich das Kiefergelenk genauer an, wundert das kaum: Es handelt sich dabei um ein hochkomplexes System, das beim Essen und Sprechen rotieren, sich auf und ab sowie vor und zurück bewegen muss. Probleme entstehen, wenn Ober- und Unterkiefer nicht richtig zusammenpassen oder die entsprechenden Muskeln verhärtet oder überlastet, verkürzt oder gedehnt sind. Auf Dauer kann sich diese Spannung auf die gesamte Schädelmuskulatur übertragen. Aus Selbstschutz versucht der Körper dann, Verspannungen und Fehlhaltungen mithilfe von Muskeln und Nerven auszugleichen. Dieses Schutzsystem verschafft zunächst einen Puffer. Aber wenn es erschöpft ist, beginnen die Schmerzen.

 

Ursachen für einen Fehlbiss können Entzündungen im Kiefergelenk sein, denen man mit Gelenkspülungen und entzündungshemmenden Medikamenten begegnet. Auch schlechtsitzende Implantate, zu hohe Kronen und Zahnfüllungen oder missglückte Kiefer-OPs kommen infrage. Solche Missstände sind zahnmedizinisch oder kieferorthopädisch zu korrigieren. Leidvoll wird die Sache in der Regel aber erst dann, wenn die Betroffenen das Gelenk mit einem hohen Druck belasten, etwa bei nächtlichem Zähneknirschen, wegen Stress oder psychischen Problemen. Die Devise lautet daher: Wenn Zähne inaktiv sind, haben sie aufeinander nichts verloren. In Ruhe hängt der Unterkiefer entspannt, die Lippen sind geschlossen, die Zähne nicht in Kontakt. Wer sich beim Pressen ertappt, sollte kurz Luft holen, ausatmen und dann die Lippen locker zusammenlegen. Die Kette der Beschwerden kann auch in umgekehrter Richtung verlaufen, nämlich vom Körper zum Kiefer. So reicht unter Umständen eine ungünstige Haltung in Kombination mit Stress aus, um den Zusammenbiss zu verändern. Das ist etwa dann der Fall, wenn ein Mensch seinen Kopf schildkrötenähnlich weit nach vorne zieht, um besser auf den Bildschirm schauen zu können. In diesem Fall muss vielmehr die Körperhaltung statt des Bisses korrigiert werden. In jedem Fall ist jedoch klar: Je früher eine Diagnose getroffen wird, desto besser ist es. Stehen ein problematisches Kiefergelenk und der Körper lange in unheilvoller Verbindung, verfestigen sich die Auswirkungen erheblich. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Verschiebung des Kiefers durch Zähne, die in der Jugend gezogen wurden. Im Erwachsenenalter können daraus Schwindelattacken resultieren, die sich kaum jemand erklären kann.

Mit Geduld und Know-How

Die probateste Behandlung ist die Anpassung einer Aufbissschiene, die in der Regel nachts getragen wird. Ihre Funktion liegt nicht in der Korrektur der Zahnstellung, sondern in der Entlastung der Muskulatur und der Kapselstrukturen sowie im Schutz des Zahnschmelzes. Letzterer leidet erheblich unter Bruxismus, wie der Fachjargon für das Zähneknirschen lautet. Unbehandelt kann er zudem das Zahnbein und – in extremen Fällen – auch das Zahnmark angreifen, wodurch Zähne möglicherweise absterben. Außerdem werden oft Zahnfüllungen, Brücken oder Implantate geschädigt. Ebenso in Betracht kommen physiotherapeutische Anwendungen, die auf das Kiefergelenk sowie die Hals-und Brustwirbelsäule abzielen. Gute Therapeuten geben ihren Patienten zudem Tipps für Lockerungsübungen und Selbstmassagen an die Hand. Wärmetherapien, Akupunktur und Entspannungstechniken zur Stressreduktion runden die Palette der konservativen Maßnahmen ab. Schlagen sie fehl, kann Botox weiterhelfen. Das Nervengift wird gezielt in die Kaumuskeln gespritzt, um deren Aktivität zu verringern. So soll Zähneknirschen reduziert werden, ohne die Kaubewegung zu blockieren. Diese Behandlung muss alle drei bis sechs Monate wiederholt werden. Sicher ist: Kieferbeschwerden, die auf Stress und Verspannungen zurückzuführen sind, haben sich schleichend aufgebaut. Es liegt auf der Hand, dass sie nicht von heute auf morgen verschwinden. Anders gesagt: Erst eine geduldige, langfristig angelegte Verhaltensänderung kann Erfolge bringen. Die Aussichten auf sie sind indes gut – nach spätestens einem Jahr geht es neun von zehn Patienten deutlich besser.

Zum Lebensart24-Profil
Mehr entdecken