Parodontitis, die heimliche Gefahr

Wenn Volkskrankheiten etwas Gutes haben, dann das: Jeder weiß um sie, Gefahren werden nicht verharmlost. Doch es gibt eine Ausnahme: die Parodontitis. Jeder Zweite über 35 Jahre ist an ihr erkrankt, kennt aber nicht die Folgeprobleme, die von Zahnausfall über Herzinfarkt bis zu Diabetes reichen.

Wie wichtig Disziplin ist, weiß Helmut Kleinschmidt genau – er hätte sonst nie als Marathonläufer Erfolg haben können. Das tägliche Zähneputzen war für den Sechzigjährigen darum immer so selbstverständlich wie die regelmäßige Kontrolle beim Zahnarzt. Umso härter traf ihn eines Tages die Diagnose: Parodontitis im fortgeschrittenen Stadium. Bakterien hatten bereits den Kieferknochen angegriffen, Zähne drohten auszufallen. Doch das Schlimmste bestand in etwas anderem. Wie Kleinschmidt erfuhr, war durch die Parodontitis nun auch sein vorgeschädigtes Herz in Gefahr.

Aber der Reihe nach. Was ist eigentlich Parodontitis? Es handelt sich um eine Entzündung des Zahnbetts, das unter anderem aus Bindegewebe, Zahnfleisch und Kieferknochen besteht. Die Ursache sind Bakterien, die sich auf Zahnbelag und Zahnstein ansiedeln und dort einen Biofilm erzeugen. Der setzt sich vor allem am Zahnfleischrand und in den Zahnzwischenräumen fest und scheidet dort Giftstoffe aus, die zu einer Gingivitis führen können, einer Entzündung des Zahnfleischs. Im Laufe der Zeit entwickeln sich dann zwischen ihm und der Zahnwurzel Taschen, in denen die Bakterien bestens gedeihen. Hat sich die Infektion bis zum Knochen- und Bindegewebe vorgearbeitet, spricht man von einer Parodontitis: Der Kiefer bildet sich zurück, die Zahnhälse werden freigelegt. Ab einem bestimmten Ausmaß lockern sich die Zähne und fallen aus.

Irrwitzige Unterversorgung

Das Tückische an der Parodontitis ist, dass sie sich schleichend entwickelt und vom Patienten lange nicht wahrgenommen wird. Die Folge: Etwa die Hälfte der Bevölkerung ab 35 Jahren leidet an einer mittleren bis schweren Form.

Behandelt wird allerdings nur eine kleine Minderheit – eine nahezu irrwitzige Unterversorgung.

Welche enorme Bedeutung dies für den Einzelnen und die Gesellschaft besitzt, führt ein weiterer Aspekt vor Augen: Weil die Zähne Schwachstellen bilden im System der Schleimhäute, das uns vor den Bakterien in der Mundhöhle schützt, können von dort Erreger ins Blut gelangen. So mögen Zahnfleischtaschen zwar winzig erscheinen. Doch machen sie bei einer durchschnittlichen Parodontitis insgesamt eine rund handtellergroße Fläche aus – eine dramatische Eintrittspforte für Keime, die im Körper Entzündungen in Gang setzen oder verstärken.

 

Es ist also kein Wunder, dass Studien nun bestätigen, worüber lange diskutiert wurde: Eine chronische Entzündung des Zahnhalteapparates steht mit diversen Erkrankungen in Wechselwirkung. Etwa mit der Arteriosklerose: Dieselben Bakterien, die im entzündeten Zahnfleisch aktiv sind, finden sich auch in den Ablagerungen verstopfter Gefäße, dem größten Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall. Dementsprechend zeigten Wissenschaftler des Universitätsklinikums Würzburg, dass die Blutgefäße parodontal erkrankter Patienten erheblich vorgealtert waren – mit Werten, wie sie sonst nur bei bis zu 15 Jahre Älteren zu finden sind. Umgekehrt belegte eine weitere Untersuchung, dass sich mit einer erfolgreichen Parodontaltherapie die Gefäßgesundheit verbessern lässt.

Auch zwischen Diabetes und Parodontitis besteht ein klarer Zusammenhang: Zuckerkranke bekommen die Entzündung häufiger, und sie schreitet schneller voran. Im Gegenzug kann eine Parodontitis den Diabetes verschlimmern. Was auch bedeutet: Wer das Zahnbett kuriert, erleichtert es dem behandelnden Arzt, entgleiste Blutzuckerwerte wieder korrekt einzustellen. Ähnliches gilt auch für den Bluthochdruck, der sich nach einer Parodontalbehandlung in einem Ausmaß verändern kann, das mitunter dem Einsatz von Beta-Blockern gleicht.

Erfahrene Experten

Die Bedeutung von Zahnärzten, die mit geschultem Auge Parodontitis früh erkennen und kurieren können, ist also gar nicht hoch genug einzuschätzen. Die Methoden konzentrieren sich dabei auf die Wurzelglättung, mit denen das Zahnbett von Bakterien befreit wird. Reicht eine solche Tiefenreinigung nicht aus, kann sie durch spezielle Antibiotika unterstützt werden. Ob eine solche Vergabe infrage kommt, wird molekularbiologisch ermittelt – DNS-Sonden entnehmen dafür Keimproben aus den Taschen. Chirurgische Eingriffe betreffen nur etwa zehn Prozent aller Fälle. Unter Einsatz von Membranen, Knochenersatzmaterialien und wachstumsfördernden Medikamenten werden dann Kieferknochen und Gewebe wieder aufgebaut.

Am besten ist es natürlich, man lässt es erst gar nicht so weit kommen. Neben einer vitaminreichen Ernährung, Stressvermeidung und der Aufgabe des Rauchens braucht es dazu Kontrollen, professionelle Zahnreinigung und systematische Mundhygiene. Und zu der zählt auch der Gebrauch von Zahnseide: Die Bürste allein säubert nur etwa zwei Drittel der Mundhöhle. Dem Parodontitis-Patienten und Marathonläufer Helmut Kleinschmidt war dies nicht klar. Und so geht es vielen: Der Verbrauch von Zahnseide liegt im Schnitt bei anderthalb Meter pro Jahr. Würde man täglich einmal Zahnseide nutzen, kämen rund 180 Meter zusammen. Auch diese Zahlen zeigen:

Zu einem umfassenden Bewusstsein für die Gefahren der Parodontitis ist es noch ein weiter Weg.

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