Sportlerherzen leben länger

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in Deutschland die häufigste Todesursache. Nichts Neues, werden Sie sagen. Wussten Sie aber auch, dass der Herzinfarkt immer jüngere Menschen ereilt? Uns im Durchschnitt zehn Jahre eher das Leben kostet als die früheren Generationen? Und seinetwegen mittlerweile genauso viele Frauen sterben wie Männer? Die gute Nachricht: 90 von 100 Bundesbürgern haben es in der Hand, verschont zu bleiben, wenn sie mit einem gesunden Lebensstil ernst machen.

Die Mehrheit der Bundesbürger bewegt sich zu wenig; zwei von dreien befolgen Churchills Devise »No sports«. In der Freizeit dominiert Abhängen, im Job hingegen Sichauswringen – nicht wenige kompensieren den Stress durch Rauchen, suchen »Erholung« im Alkohol oder futtern pausenlos Süßes.

Bauchumfang ist Herzenssache

Kalorien, die nicht verbraucht werden, verwandelt der Körper in Fettgewebe. Eine Reserve für schlechte Zeiten, aber auch eine Hypothek, die auf der Gesundheit lastet. Hier gibt es ebenfalls Neuigkeiten: Nicht unbedingt Übergewicht macht krank; mollig und körperlich fit ist gesünder als schlank und schlapp, vermeldete die US-Behörde für Gesundheitsstatistik. Die Sterblichkeit steige erst über einem Body-Mass-Index ab 30 an, dem Grenzwert für krankhafte Fettsucht (Adipositas).

Maßgeblicher als die Menge des Körperfetts ist seine Verteilung. Gefährlich wird es, wenn es sich am Bauch und zwischen den inneren Bauchorganen konzentriert, denn dann schnellen Blutdruck, Blutzuckerspiegel und Blutfettwerte in die Höhe. Diese schädliche Kombination wird von Ärzten als metabolisches Syndrom (Häufung verschiedener Stoffwechselstörungen) bezeichnet. Beispiel Typ-2-Diabetiker: Acht von zehn leiden zusätzlich an Bluthochdruck, immerhin sechs von zehn weisen ebenfalls zu hohe Blutfettwerte auf. Ein Zustand, der die Blutgefäße unter Dauerstress setzt, sodass sie verkalken; das Herzinfarktrisiko liegt bei Menschen mit metabolischem Syndrom zwölfmal höher als bei Gesunden. Tückischerweise haben viele keine Beschwerden, merken also gar nichts davon, dass ihr Stoffwechsel aus dem Ruder läuft. An den Tag bringt dies schlimmstenfalls erst die finale Katastrophe, ein Infarkt…

Weil das metabolische Syndrom oft still und heimlich sein Unwesen treibt, lässt sich nicht genau angeben, wie verbreitet es in der Bevölkerung ist.

Schätzungen kursieren, wonach 30 bis 40 Prozent der über 40-Jährigen betroffen sind.

In ihrem Körper spielt sich über mehrere Akte folgendes Drama ab: Hoher Blutdruck und Diabetes bzw. dessen Vorstufen schädigen die Innenhaut der Arterienwände, insbesondere der Herzkranzgefäße, und erhöhen den Fettgehalt des Blutes.
Blutfette lagern sich ab, in den Adern wird es enger, die Durchblutung verschlechtert sich.

Der Herzmuskel muss daraufhin mehr arbeiten und erschöpft vorzeitig, sodass man auch bei Kleinigkeiten rasch aus der Puste gerät und sich überanstrengt fühlt. Auch anfallartige Schmerzen in der Brust (Angina pectoris) sind ein Warnsignal. Blutgerinnsel, die sich an Engstellen bilden, können die Blut- versorgung blockieren. Teile des Herzens oder des Gehirns bekommen dann keinen Sauerstoff mehr und sterben ab – es kommt zum lebensbedrohlichen Infarkt (das lateinische Wort »infarcere« bedeutet »verstopfen«).

Fettzellen aktiv wie eine Drüse

Warum das Bauchfett an all dem schuld ist? Nach neuesten Erkenntnissen speichert es nicht einfach nur Energie, sondern ist aktiv am Stoffwechselgeschehen beteiligt. Wie eine Drüse sondert es Hormone und entzündungsfördernde Stoffe ins Blut ab, die sich im Organismus schädlich auswirken können. So verringern sie z.B. die Gefäßweite oder lassen das Blut leichter gerinnen. Zudem erhöht ein dicker Bauch das Diabetes-Risiko, denn die Fettpolster behindern die Arbeit von Insulin, des Hormons also, das den Blutzuckerspiegel reguliert. Das metabolische Syndrom hieße mithin treffender »Bauchfettkrankheit«, um die gemeinsame Wurzel von hohem Blutzucker, hohen Blutfettwerten und Bluthochdruck auf den Begriff zu bringen.

Ab einem Bauchumfang von 88 (Frauen) bzw. 102 Zentimetern (Männer) nehmen die Risiken für Herz und Kreislauf zu, Abspecken ist angesagt. Die Internationale Diabetes-Föderation hat die Grenzwerte unlängst sogar auf 80 und 94 verschärft, erhielt dafür aus der Ärzteschaft aber nicht nur Zustimmung. Fest steht: Schon eine Gewichtsreduktion um fünf bis zehn Pro- zent lässt das innere Bauchfett um knapp ein Drittel schmelzen. Auf die Kalorienbremse zu treten, ist das eine. Anders essen allein reicht jedoch nicht, denn das Bauchfett widersetzt sich dem Abbau durch Diät.

Die Pfunde purzeln erst, wenn regelmäßige Bewegung hinzukommt.

Das bedeutet mindestens drei- mal die Woche zwei bis drei Stunden Sport, ohne sich auszupowern, weil sonst Kohlenhydrate statt Fett verbrannt werden. Was zählt, ist Ausdauer: Radeln oder strammes Gehen (Walking) knabbern die Speckpolster an und senken obendrein den Blut- zuckerspiegel.

Ganz Bequeme kommen vielleicht auf die Idee, sie könnten sich das Bauchfett einfach absaugen lassen, statt es sich mit Sport »wegzuquälen«. Eine trügerische Hoffnung, denn beseitigen lässt sich durch Liposuktion nur das Unterhautfettgewebe. Für die Gesundheit müsste man aber auch das mit dem Bauchfell und den Bauchorganen verwachsene Fett quitt werden – es abzusaugen würde schwerste Blutungen und Verletzungen anrichten und ist daher tabu.

Das Übel an der Wurzel packen

Sport zu treiben gilt beim metabolischen Syndrom als die beste Medizin, weil sich herausgestellt hat, dass sich durch körperliche Aktivität sämtliche Stoffwechselstörungen auf einmal in den Griff bekommen lassen, die auf ungesunde Lebensweise zurück- zuführen sind. Eine derart umfassende oder – wie Fachleute sagen – integrierte Therapie, die ursächlich wirkt, nicht bloß Symptome beseitigt, hat es beim metabolischen Syndrom zuvor nicht gegeben. Arzneimittel wirken zwar schneller und meist auch potenter, dafür aber bloß ausschnitthaft, d.h. sie nehmen für gewöhnlich nur eine einzige Störung ins Visier, z.B. zu hohen Blutdruck. Die übrigen Werte bleiben unverändert; es kann sogar sein, dass sie sich verschlechtern, also dass etwa der Blut- zuckerspiegel ansteigt, wenn der Blutdruck medikamentös gesenkt wird.

Dem Herztod lässt sich buchstäblich davonlaufen: Schon wer sich jeden Tag 15 Minuten lang körperlich betätigt, verringert sein Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, um 20 Prozent und verlängert sein Leben statistisch gesehen um mindestens drei Jahre, schrieb das britische Fachmagazin »Lancet«. Deutsche Sportmediziner haben errechnet: Wer drei- bis vier- mal wöchentlich eine gute halbe Stunde joggt oder radelt, reduziert das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung um die Hälfte. Als gesunde Mischung empfehlen sie eine Kombination aus

70 Prozent Ausdauersport, 20 Prozent Koordinationstraining, z.B. täglich fünf bis zehn Minuten Gymnastik, und zehn Prozent Krafttraining, etwa mit einem Theraband.

Mehr Bewegung statt Medikamente

Die ärztlichen Fachgesellschaften haben aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen gezogen und in ihren Behandlungsempfehlungen, den sogenannten Leitlinien, Sport einen höheren Stellenwert eingeräumt. Das gilt sowohl für Patienten mit metabolischem Syndrom als auch mit isolierten Komponenten, also z.B. Bluthochdruck alleine. Sofern dieser nicht extrem hoch ist, sticht Sport Medikamente aus, d.h. stellt die erste und vorerst einzige Behandlungsmaßnahme dar. Immerhin jeder zweite hat die Chance, den Blutdruck durch Sport zu normalisieren; erst jene, bei denen zwei- bis dreimonatiges Training nicht fruchtet, sind auf Medikamente angewiesen. Bei Personen mit besonders schwerem metabolischem Syndrom kann Sport ebenfalls nicht genug ausrichten.

Sich regen bringt Segen – gut und schön, werden viele sagen, aber was hat man davon, wenn es für Vorbeugung schon zu spät, das Herz bereits krank ist? Selbst dann ist der Zug noch nicht abgefahren: Sport, mäßig, aber regelmäßig, ist für die meiste Herzkranke weder tabu noch gefährlich. Im Gegenteil: Sport- therapie eignet sich auch für Schwerkranke, gibt selbst nach einem Herzinfarkt der Gesundheit Auftrieb. »Die größte Revolution der kardiologischen Therapie in den letzten hundert Jahren«, meint Prof. mult. Dr. med. Dr. h. c. Wildor Hollmann, der inzwischen 93-jährige Gründer des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der in Köln ansässigen Deutschen Sporthochschule. Die Infarktpatienten beginnen sehr früh, möglichst schon in der Akutklinik, mit Gymnastik und bauen später behut- sam ihre Ausdauer aus. Hollmann: »In den ersten drei Jahren nach dem Infarkt reduziert wohldosierter Sport das Risiko eines weiteren, eventuell tödlich verlaufenden Herzanfalls um 25 Prozent. Das ist enorm, Medikamente wirken nicht besser.«

Bypass ohne Operieren

Die nächste Revolution steht schon vor der Tür: Es gibt sensationelle Erkenntnisse, dass Sport die Selbstheilungskräfte des Herzens aktiviert. Sobald Herzkranzgefäße verengt sind und weniger Blut im Herzmuskel ankommt, bildet der Organismus bei sportlich Aktiven einen natürlichen, körpereigenen Bypass aus (vorausgesetzt, es wird nicht geraucht). Sogar kranken Herzen wohnt noch die Fähigkeit inne, Engstellen durch Umlei- tungen zu überbrücken, die es selber sprießen lässt. Keine Zauberei, sondern Biologie: Winzig kleine Gefäße (Kollaterale) wandeln sich in taugliche Adern um. Ein Phänomen, das Mediziner als Arteriogenese bezeichnen: Blut, das sich vor Engstellen staut, sucht sich neue Wege und drängt in die Kollateralen. Daraufhin erhöht sich in ihnen der Druck – für die Zellen vor Ort der Start- schuss, eine biochemische Maschinerie anzuwerfen, die aus Kollateralen dicke, lange Arterien macht. Besonders gefördert wird dieser Prozess durch körperliche Aktivität. Wer sich viel bewegt, legt sich somit eine Art Schutzschild im Herzen zu: Überall, wo die Durchblutung vermindert ist, entstehen neue Bypässe. Eine Studie der Universität Leipzig ergab, dass diese mobilisierende Herzkur mehr Patienten mit beginnender Arterienverkalkung beschwerdefrei machen kann als das Einsetzen von Gefäßstützen (Röhrchen aus Metallgitter, sogenannte Stents).

Das Problem: Ein natürlicher Bypass entsteht nicht von jetzt auf gleich, der Organismus braucht dazu Tage oder auch Wochen. Wer einen Infarkt erleidet, ist aber binnen Minuten auf neue Arterien angewiesen, die dem Herzen wieder genug Blut zuführen. Forscher suchen deshalb nach Methoden, die Arteriogenese zu beschleunigen und gleichsam auf Knopfdruck zu erzwingen. Gefahndet wird nach Signal- und Wuchsstoffen, die an dem Prozess entscheidend beteiligt sind, um diese dann in ein schnell wirkendes Medikament zu packen. Noch ist das Zukunftsmusik, zumal die Vision Skepsis auslöst. »Bewegung kann man pharmakologisch nicht ersetzen«, zitierte das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« den damaligen Direktor der Klinik für Innere Medizin/Kardiologie des Herzzentrums Leipzig, Prof. Dr. med. Gerhard Schuler.

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