LebensartMED Redaktion: Auf den Zahn gefühlt

von Birgit Marx

»Das ist dann wohl psychosomatisch« – dieser schulterzuckende Satz ist für jeden Patienten der Inbegriff von Ausweglosigkeit und Frustration. Im Gegensatz dazu steht ein ganzheitlicher Ansatz, der Körper und Psyche zusammendenkt, um den tatsächlichen Ursprung eines Problems zu finden. Er spielt auch für moderne Zahnärzte eine große Rolle. Sie wissen: Psychische Probleme können zu Zahnschäden und Zahnschäden zu psychischen Problemen führen. Fest steht, dass sich bei etwa jedem fünften Patienten psychosomatische Zusammenhänge feststellen lassen.

Vorsorgen ist besser als bohren
Zuerst die gute Nachricht: Die Mundgesundheit der deutschen Bevölkerung hat sich in den letzten rund 30 Jahren »außerordentlich positiv« entwickelt. Das sagt zumindest die Bundesärztekammer. Der Grund liegt, wie so oft, in der Medizin, in der Prävention. Eine Tatsache, die nicht nur gesundheitspolitisch anerkannt, sondern auch wissenschaftlich belegt ist. Diese Erfolge in der Zahnmedizin gelten im gesundheitspolitischen Raum mittlerweile als das Erfolgsmodell und Vorzeigeprojekt für die Prävention schlechthin. Studien belegen nicht nur den deutlichen Kariesrückgang bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch den zunehmenden Zahnerhalt und das hohe Versorgungsniveau bei Erwachsenen und Senioren.

Psychosomatik nimmt zu
Und jetzt die schlechte Nachricht: Psychosomatische Erkrankungen haben eine zunehmende Bedeutung für die Mundgesundheit der Bevölkerung. Bereits 2009 stellte das Robert Koch-Institut im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes fest: »Mundgesundheit bezieht sich nicht nur allein auf die Zähne, sondern steht in enger Beziehung zur gesamtkörperlichen Gesundheit und zum Wohlbefinden.«
Dass Zähne und Psyche zusammenhängen, ist lange bekannt und kommt auch in vielen alltagssprachlichen Formulierungen zum Ausdruck: So heißt es bei Stress, dass man die »Zähne zusammenbeißen« soll. Eine durchsetzungsfähige Person »hat Biss« und jemand, der sich nicht alles gefallen lassen möchte, »will nicht mehr alles schlucken«.

Zusammenhänge erkennen
Psychische Erkrankungen können auf psychophysiologischem* Weg mit zahnmedizinischen Erkrankungen interagieren. So besteht zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen Depression und Schmerz, Stress und Hyperaktivität der Kaumuskulatur oder Essstörungen und Zahnschmelzschäden. Der psychische Zustand beeinflusst aber auch das Mundhygieneverhalten sowie die Bereitschaft eines Patienten zur Compliance* und damit insgesamt seine Mundgesundheit. Im Durchschnitt ist jeder fünfte Patient in der Zahnarztpraxis neben seinen körperlichen Beschwerden mit psychischen Problemen behaftet.

Psychische Probleme im Zahnarztstuhl
Auch wenn Zahnärzte Patienten mit psychischen Problemen nicht therapieren können, sind sie oft die ersten, die diese Symptome erkennen und eine psychotherapeutische Behandlung empfehlen können. In der zahnärztlichen Praxis fallen beispielsweise Patienten mit körperdysmorpher* Störung auf, wenn sie sich intensiv für bestimmte Veränderungen ihres Gebisses oder Gesichtes einsetzen. Ähnliches gilt für Essstörungen: Bei Magersucht und Bulimie kommt es zu einer Zahnschädigung (vor allem Erosionen), die ein Zahnarzt feststellen kann.

Zähne zeigen
Wussten Sie, dass auch das Lächeln zuerst als Angstgeste entstanden ist? Wenn Affen ihre Zähne zeigen, signalisieren sie ihrem Gegenüber: »Tu mir nichts«.

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Schmerz im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich
Eines der komplexesten Probleme der Zahnarztpraxis sind Schmerzen im Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereich, die sogenannte Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), zu deren Symptomen Schmerzen in den Kaumuskeln, in den Kiefergelenken und den benachbarten Bereichen zählen. Ungefähr 33 bis 75 Prozent der Erwachsenen weisen Funktionsstörungen auf und bei 16 Prozent der 19- bis 45-Jährigen besteht Behandlungsbedarf. Beispiele für krankheitsauslösende Faktoren sind Probleme am Arbeitsplatz, Arbeitsplatzverlust, familiäre Probleme oder finanzielle Sorgen. Dabei hat der Faktor Stress eine maßgebliche Bedeutung, CMD-Patienten berichten von stärkeren Belastungen bei alltäglichen Stresssituationen.

Hier kann eine psychotherapeutische Behandlung helfen, da psychosozialen Faktoren eine Schlüsselstellung bei der Entstehung der CMD zuerkannt wird. Erste Erfahrungsberichte gibt es bereits für verschiedene Herangehensweisen, wie kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren, Biofeedbackverfahren, Hypnotherapie sowie Stressabbau-, Emotionsregulations- und Entspannungsverfahren.

Somatoforme Schmerzstörung
Chronischer Gesichtsschmerz oder schmerzliche Prothesenunverträglichkeit ohne erklärenden organischen Befund werden bei zehn Prozent der Patienten in der zahnärztlichen Praxis diagnostiziert. Am Beginn der Erkrankung kann eine organische Schädigung stehen, wie eine Extraktion, Wurzelbehandlung oder eine Prothese. Aber auch psychosoziale Schwierigkeiten wie belastende Lebensereignisse oder Konflikte können der Auslöser sein und wesentlich für den Fortbestand beziehungsweise die Chronifizierung der Schmerzen sorgen, auch nachdem die verursachende Gewebeschädigung abgeheilt ist.

Die Behandlung von somatoformen Schmerzstörungen sollte im Rahmen einer engen interdisziplinären Kooperation zwischen Ärzten und Psychotherapeuten erfolgen. Auch nach dem Beginn einer Psychotherapie sollte eine kontinuierliche somatische Betreuung gewährleistet sein, um in dieser Zeit eine erneute diagnostische Odyssee zu verhindern.

Zähne + Psyche
Immer mehr Studien belegen, dass zwischen Psyche und Zähnen ein enger Zusammenhang besteht. Um diesen Schnittstellen patientengerecht begegnen zu können, sollten Zahnärzte und Psychotherapeuten eng zusammenarbeiten.

Bruxismus
Beim Bruxismus, dem Zähneknirschen, treten Maximalkräfte von 300 bis 400 Kilogramm pro Quadratzentimeter auf, die schon ausreichen, um die Zähne, den Zahnhalteapparat und die beteiligten knöchernen Strukturen wie zum Beispiel die Kiefergelenke dauerhaft zu schädigen. Bisher gibt es kein besonders umfangreiches Wissen über die Entstehung, Bruxismus gilt heute als multifaktoriell bedingt: Emotionaler Stress, Angststörungen, Schlafstörungen, Nikotin-, Alkohol-, Koffein- und Drogenkonsum, Nebenwirkungen von Medikamenten oder genetische Einflüsse können Risikofaktoren sein.

Bisher hat sich die Schienentherapie als effektivste Methode zur Behandlung von Bruxismus bewährt: Eine individuell angefertigte Aufbissschiene aus Kunststoff wird als Schutzbarriere zwischen Ober- und Unterkiefer eingesetzt, damit sie einen weiteren Abrieb der Zähne verhindert und die Zahnsubstanz schont. Die Schienentherapie dient zunächst nur der Ausschaltung von Beschwerden und kann nicht die Ursachen für Bruxismus heilen. Wichtig ist zunächst einmal eine umfassende Aufklärung des Patienten und eine mögliche Lebensumstellung. Auch Yoga und Pilates sind sinnvolle Ergänzungsmittel bei der Bruxismus-Therapie. Ferner ist auch die Anwendung von Botox möglich. Als alternative Therapiemöglichkeiten können Hypnose, Akupunktur oder Homöopathie eingesetzt werden.

Zahnbehandlungsangst
In der Allgemeinbevölkerung geben 60 bis 80 Prozent an, ein angespanntes Gefühl vor dem Zahnarztbesuch zu haben. Bis zu 20 Prozent zeigen ein Angstempfinden und fünf Prozent vermeiden den Zahnarztbesuch völlig. Im Kontext von Angst haben sich Hypnose- oder Entspannungsverfahren bewährt. Einige Zahnärzte weisen bereits spezielle psychosomatischpsychotherapeutische Qualifikationen zum Umgang mit der Zahnbehandlungsangst auf. Sobald eine spezifische psychotherapeutischeKompetenz notwendig ist, sollte der Zahnarzt den Patienten jedoch an den Psychotherapeuten überweisen. Patienten mit Traumaerfahrungen in der Lebensgeschichte können die zahnärztliche Behandlung durch das liegende Setting, die Unfähigkeit, während der Behandlung zu sprechen und damit verbundene Ohnmachtsgefühle als Retraumatisierung beispielsweise von Gewalterfahrungen oder Missbrauch erleben. Eine psychotherapeutische Behandlung der Zahnbehandlungsangst ist bei dieser Patientengruppe indiziert.

Der biopsychosoziale Ansatz
Die meisten Patienten, die eine zahnärztliche Praxis aufsuchen, erwarten eine somatische* Behandlung oder Präventionsmaßnahme. Durch eine biopsychosoziale* Anamneseerhebung kann sich der Zahnarzt einen Überblick aller vorliegenden Symptome oder Erkrankungen verschaffen. Aus Gründen der Vorsorge sollte der Grundsatz gelten, dass psychosoziale Einflussfaktoren neben einer klassischen zahnmedizinischen Ausschlussdiagnostik sowohl erkannt als auch adäquat thematisiert werden.

Gesund im Mund?
Mund- und Gesichtsregion stellen nicht nur eine der intimsten Zonen des menschlichen Körpers dar, sondern auch Bereiche, auf die Konflikte und Ängste projiziert und in denen psychosomatische Erkrankungen ausgetragen werden. Dem Mund kommt in der psychosozialen Entwicklung des Menschen eine zentrale Bedeutung zu.

Lexikon*
Das »Biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit« sieht die Krankheit nicht rein mechanistisch, sondern als Störung der Interaktion von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren
Compliance: aktive Mitwirkung der Patienten an therapeutischen Maßnahmen
Körperdysmorphe Störung: übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel oder einer befürchteten Entstellung der äußeren Erscheinung
Die Psychophysiologie untersucht Zusammenhänge zwischen bestimmten physiologischen Abläufen im Körper und emotionalen bzw. kognitiven Prozessen
Somatisch: körperlich

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